Versorgungswerke
26. November 2024

Wider die Prozyklik: der Stresstest 2.0 für Versorgungswerke

Die Frage, wie viel Sicherheit oder Aktien es in der privaten Altersvorsorge braucht, beschäftigt die Politik in Berlin. In Düsseldorf setzten sich Versorgungswerke und die Aufsicht gemeinsam damit auseinander, welches Risikomanagement am sinnvollsten für diese Anlegergruppe ist. Entstanden ist der Stresstest 2.0. Dieser löst die bisherigen Stresstests ab und ermöglicht mehr Antizyklik.

Die 91 berufsständischen Versorgungswerke in Deutschland sind mit Blick auf Größe und Alter eine in sich recht heterogene Gruppe. Besonders groß sind die Unterschiede aber im externen Vergleich mit Versicherungen und Pensionskassen. Die Selbstverwaltung, dass die einzelnen Versorgungswerke meist noch Cashflow-positiv sind oder der Garantieverzicht stellen Kontraste dar. Diese Unterschiede führen auch dazu, dass berufsständische Versorgungswerke chancenorientierter und höher rentierlich anlegen dürfen. Allerdings fällt es ihnen schwer, alle Chancen zu nutzen, solange sie die Quoten der allgemeinen Anlageverordnung erfüllen müssen. Deshalb wird bereits seit Längerem darüber debattiert, ob die Berufsständler eine eigene Anlageverordnung bekommen sollten. Ein entsprechendes Konzept liegt vor. Entschieden ist allerdings nichts – auch weil aus Sicht der Landesaufsichtsbehörden der Zinsanstieg für Entspannung bei den Anlagemöglichkeiten und damit für weniger Zeitdruck gesorgt hat.

Damit blieb in jüngerer Zeit für die freien Berufe die Einführung einer Infrastrukturquote in Nordrhein-Westfalen die einzige aufsichtsrechtliche Veränderung – zumindest bis jetzt. Ebenfalls in NRW erging nämlich Ende August ein Erlass des für berufsständische Versorgungswerke zuständigen Ministeriums der Finanzen zur Anwendbarkeit des „Stresstests 2.0“.

Das neue Regelwerk ist das Resultat einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Landesaufsicht und nordrhein-westfälischen Versorgungswerken, die von Dr. Ulf Steenken, Referatsleiter Versicherungsaufsicht, sowie Jens Hennes, Hauptgeschäftsführer des Versorgungswerks der Apothekerkammer Nordrhein (VANR) und in Personalunion Geschäftsführer für das Versorgungswerk der Tierärztekammer Nordrhein (VTNR), initiiert wurde. Der Arbeitskreis wuchs über die Entwicklungszeit stetig und umfasst nunmehr fast alle in Nordrhein-Westfalen ansässigen berufsständischen Versorgungswerke. „Unser erklärtes Ziel war ein neues allgemeines aufsichtsrechtliches Stresstestmodell für Nordrhein-Westfalen“, erläutert Steenken. „Es sollte primär die Besonderheiten der Versorgungswerke berücksichtigen und dessen abgeleiteter Stresswert sollte eine höhere Sensitivität zu aktuellen Marktgeschehnissen aufweisen und ein realistischeres, auf die Kapitalanlage der Versorgungswerke angepasstes Bild zeichnen. Das haben wir mit dem Stresstest 2.0 erreicht.“ Das jetzt von der Aufsicht vorgeschriebene Modell wird in etwas anderer Form als selbst entwickeltes internes Modell bereits seit 2016 beim VANR und VTNR zusätzlich zu den aufsichtsrechtlich geforderten Stresstests gerechnet.

Ausgangspunkt für VANR-Hauptgeschäftsführer Hennes war die Überlegung, „dass es einer sehr guten Vorbereitung auf die nächste Kapitalmarktkrise bedarf“. Bislang reporteten die 15 NRW-Versorgungswerke zweimal pro Jahr dem Ministerium der Finanzen in Düsseldorf den Status quo ihrer Kapitalanlage gemäß dem von der Arbeitsgemeinschaft berufsständischer Versorgungseinrichtungen (ABV) entwickelten Stresstest. Neben dem ABV-Stresstest wird auch der Risikowert der Kapitalanlage basierend auf einem Value-at-Risk-Modell gerechnet. „In seiner Funktionsweise ist der Value-at-Risk ein prozyklischer Ansatz. Für Versorgungswerke ist es jedoch weitaus zielführender, antizyklisch handeln zu können“, erläuterte Hennes auf dem Apo-Institutionell-Symposium, das, wie jedes Jahr, gerade von Vertretern der Versorgungswerke gut besucht wurde. Als Beispiel führte Hennes den Euro Stoxx 50 an, der in der Finanzkrise in der Spitze 58,6 Prozent verlor: „Aktien und damit unsere Reserven gingen runter, der Value-at-Risk ging aber relativ um elf Prozent hoch und damit auch die relative Eigenkapital-Anforderung. Wie sinnvoll ist es aber, die Risikoträgerbindung auszuweiten, wenn der Markt bereits unten ist?“

VANR schätzt antizyklische Ansätze

Eher zielführend erscheinen aus Marktsicht für diejenigen, die es sich leisten können, Zukäufe, um die niedrigeren Asset-Bewertungen zu nutzen. Hennes: „In einer Baisse-Phase sollte man antizyklisch handeln und demzufolge mehr Risiko eingehen können.“ Am Rande: Eine konsequente Schlussfolgerung dieser Überlegung war der sogenannte Aktien-ETF-Sparplan des Apotheker-Versorgungswerks Nordrhein. Nach diesem Plan kauft das VANR – antizyklisch und automatisch – Aktien, wenn bestimmte Indexstände unterschritten werden. Diesem Aktien-Rezept haben sich die Apotheker seit 2018 verschrieben, was im Corona-Crash 2020 für eine schnelle „Rendite-Genesung“ sorgte. Diesen antizyklischen Ansatz verfolgt das VANR übrigens nicht nur bei Aktieninvestments, sondern nutzt die aktuelle Schwäche im Immobilienmarkt jetzt für Neuengagements. Hennes: „Wir sehen derzeit große antizyklische Chancen an den Immobilienmärkten und haben die Quote in diesem Jahr um rund fünf Prozentpunkte angehoben. Gerade Immobilieninvestments in den USA und Wohnen in Deutschland haben wir deutlich aufgestockt.“

Wenig förderlich für antizyklische Aktienkäufe sind jedoch prozyklisch ausgelegte Stresstests, die das Risiko in guten Zeiten zu gering berechnen und dann im Falle eines Kapitalmarktcrashs eine zusätzliche unerwartete Eigenkapitalunterlegung verlangen. Deshalb ist es erklärtes Ziel des neuen Stresstestmodells, für die Kapitalanlage eines Versorgungswerks einen individuellen Risikowert herzuleiten, welcher möglichst stark mit den tatsächlichen insbesondere aktuellen Marktgeschehnissen korreliert. Auf diese Weise sollen zum aktuellen Stichtag die Risiken systematisch ermittelt und der vorhandenen Risikotragfähigkeit gegenübergestellt werden können. „Natürlich gilt für uns auch der 31.12., aber als sehr langfristig agierender Investor ist solch eine Stichtagsbetrachtung von geringerer Relevanz – wir benötigen ein passenderes Konzept“, führte Jens Hennes auf dem Symposium aus. „Darum haben wir gemeinsam mit dem Finanzministerium und knapp zehn anderen Versorgungswerken den Stresstest 2.0 entwickelt.“

Im Düsseldorfer Ministerium der Finanzen leitet mit Ulf Steenken jemand das auch für die Aufsicht über die berufsständischen Versorgungswerke zuständige Referat III B 4, den auch interessiert, ob ein Anleger die Stresstests nur für die Aufsicht oder auch für das eigene Risikomanagement macht. „Die Zusammenarbeit zwischen Versorgungswerken und Aufsicht verbessert das gegenseitige Verständnis aller Beteiligten und eröffnet die Möglichkeit, Dinge effizient umzusetzen und auch auf die Akzeptanz der Versorgungswerke zu treffen“, kommentierte Steenken auf dem Apo-Symposium den gemeinsamen Arbeitskreis. Jens Hennes betonte, wie effizient sich die gemeinsame Umsetzung mit fortlaufendem gegenseitigem Feedback zur Praktikabilität gestaltete.

VaR- und ABV-Stresstests sind Geschichte

Der neue Stresstest 2.0 ist nun einmal jährlich zum 31.12. – erstmals für dieses Jahr – von den Versorgungswerken in NRW zu rechnen, wobei das Ministerium auch unterjährig zu einer weiteren Abgabe auffordern kann. Künftig ist der neue Stresstest der einzige, der an die Landesaufsicht gemeldet werden muss. Die bisherigen VaR-Stresstests und ABV-Stresstests entfallen. Alle NRW-Versorgungswerke bewerten dies positiv – nicht zuletzt, weil sie diese beiden Stresstests längst nicht mehr federführend einsetzen.

Die Risikotragfähigkeit eines Versorgungswerks ergibt sich aus der Summe der Risikoträger. Einbringen dürfen die Versorgungswerke die Positionen Eigenkapital, Rücklagen, Zinsschwankungsreserven, Stille Reserven, Rückstellungen für Leistungsverbesserungen. Bei einem unterjährigen Stresstest zum 30. September dürfen sie zusätzlich den erwarteten Gewinn aus der Entwicklung der Beitragsbemessungsgrenzen im Folgejahr ansetzen. Mögliche Gewinne aus der Kalkulation mit einem ewigen Neuzugang berücksichtigt der Stresstest 2.0 – entgegen dem Wunsch der Versorgungswerke – jedoch nicht. Offenbar schließt die Aufsicht nicht aus, dass es in der Zukunft auch einmal weniger neue (einzahlende) Freiberufler geben könnte.

Drawdown und Recovery

Gemessen wird das Risiko grundsätzlich auf Basis des Maximum Drawdown, also anhand des maximal möglichen Verlusts, der innerhalb des betrachteten Zeitraums entstanden wäre, hätte man die schlechtesten Ein- und Ausstiegszeitpunkte gewählt. Anders ausgedrückt: Man nimmt an, dass der Worst Case eintritt. Allerdings sieht der Stresstest 2.0 einen modifizierten Maximum Drawdown (mod. MDD) vor, der auch eine Recovery Rate und den eingetretenen Verlust seit dem letzten All Time High berücksichtigt. Die Annahme einer Recovery basiert auf der historischen Erkenntnis, dass auf signifikante Markteinbrüche in der Regel auch eine rasche und deutliche Kurserholung folgt. Die Länge der Recovery-Phase wurde im neuen Stresstest auf 60 Handelstage nach dem Tiefstand festgelegt. Dies wiederum hat seinen Hintergrund in der Praxis der institutionellen Kapitalanlage. Sollte nämlich der Tiefstand ausgerechnet am 31.12. eintreten, können Abschreibungen durch die zu erwartende Wertaufholung vermieden werden. „In der Regel benötigt der Abschlussprüfer etwa drei Monate bis zur finalen Attestierung“, erläuterte Ulf Steenken. „Anfang April ist mir also bekannt, ob die Wertaufholung tatsächlich eingetreten ist. Wenn nicht, muss eben noch einmal gerechnet werden.“ Insgesamt ergibt sich folgende Formel:

mod. MDD = [MDD × Recovery Factor] − Verlust seit dem letzten All Time High 

 

Die Formel wird aufgrund der idealerweise notwendigen sehr langen Kurshistorien nicht auf die tatsächlichen Assets im Portfolio des Versorgungswerks angewendet. Stattdessen wird die Entwicklung passender langlaufender Markt- und Branchenindizes betrachtet. Anlageklassen, für die kein adäquater Marktindex vorliegt, werden aktuell mit einem Pauschalansatz gestresst. Dazu zählen Hypotheken, Immobilien, direkt gehaltenen Anleihen (mit Berücksichtigung der Bonität) oder Infrastruktur. Bei Immobilien liegt der pauschale Risikoabschlag übrigens bei zehn Prozent der Marktbewertung, während Solvency II bekanntlich eine Risikounterlegung von 25 Prozent vorsieht. Offensichtlich flossen von den Versorgungswerken andere Erfahrungswerte ein, als die, die zum hohen europäischen Solvency-Risikowert führten. „Immobilien haben bereits stark abgewertet“, sagte hierzu Jens Hennes. „Ein höherer Wert wäre vor 2022 gut gewesen – ist im neuen Stresstest-Modell aktuell aufgrund bilanziell bereits vorgenommener Neubewertungen aber nicht sinnvoll.“

Im Falle eines Wertsicherungskonzepts ist das investmentspezifische Verlustrisiko anzusetzen. Hierzu erläutert Hennes: „Wenn einem Asset Manager eine maximale Verlustgrenze vorgegeben wird und diese niedriger ist als das aktuelle Drawdown-Risiko, so ist natürlich im Konzept auch nur das gesetzte Risikobudget als Verlustrisiko anzusetzen. Eine einfache Eingabe wurde daher von uns bei der Programmierung der VANR-Masterdatei bereits vorgesehen.“

Zur Durchführung des Stresstests 2.0 werden lediglich frei verfügbare Indizes und eine Excel-Schnittstelle zu Bloomberg oder Reuters benötigt. Für den Fall, dass ein Nutzer nicht über eine der beschriebenen Schnittstellen verfügt, kann der Stresstests auch in Zusammenarbeit mit externen Consultants kostengünstig durchgeführt werden. Die Masterdatei wurde im VANR erstellt und wird vom Versorgungswerk der Steuerberater NRW fortlaufend sowie in der finalen Prüfung auch von der Nordrheinischen Ärzteversorgung qualitätsgesichert. In der Konzeptionsphase brachte zudem das Versorgungswerk der Apothekerkammer Westfalen-Lippe sein Know-how mit ein. Hennes: „Ohne diese sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit im Arbeitskreis insgesamt und insbesondere mit diesen drei Versorgungswerken wäre die Entwicklung des neuen Stresstests nicht möglich gewesen. Durch den Arbeitskreis und den Austausch konnten wir das ursprüngliche Konzept auch nochmals wesentlich weiterentwickeln.“

Das Ergebnis kommt durch den Ministeriumserlass nun bei allen 15 Versorgungswerken in Nordrhein-Westfalen zum Einsatz und wurde von diesen bereits sehr positiv bewertet. „Zehn weitere Versorgungswerke aus sieben anderen Bundesländern haben ihr Interesse an einer Nutzung bekundet und es kommen kontinuierlich weitere Anfragen auf uns zu“, berichtete Hennes – und ergänzte sogleich, um etwaigen Sorgen vorzubeugen: „Wer den ABV-Stresstest derzeit besteht, müsste auch den NRW-Stresstest 2.0. bestehen. Und nein, für die VANR-Masterdatei nehmen wir kein Geld. Die Nutzer verpflichten sich nur, Ideen und Erfahrungswerte zur Weiterentwicklung einzubringen.“

Die ABV, die mit Beobachterstatus Teil der Arbeitsgruppe war, beabsichtigt, künftig im Rahmen des ABV-Leitfadens „Risikomanagement“ darauf hinzuweisen, dass es auch möglich ist, den Stresstest 2.0 zu nutzen. „Der ABV-Stresstest hat sich in der Praxis bewährt, wir halten den Stresstest 2.0 aber ebenfalls als geeignetes Modell. Es liegt an den Versorgungswerke und den Landesaufsichten, welche Modell angewandt wird“, erklärte der Verbands-Geschäftsführer Dr. Ulrich Krüger. Welcher Stresstest die höheren Anforderungen hat, hänge auch von der Marktphase ab.

Bestanden ist der Stresstest 2.0, wenn der Deckungsgrad, also der Quotient aus Risikotragfähigkeit abzüglich 2,5 Prozent der versicherungsmathematischen Deckungsrückstellung und dem Gesamtrisiko, mindestens 100 Prozent beträgt. Falls ein Versorgungswerk den Stresstest nicht besteht, muss dieses ein individuelles Recovery-Konzept erarbeiten und der Aufsicht vorlegen. Der bleibt es frei, weitere Maßnahmen anzuordnen. Berücksichtigen will die Aufsicht in den Recovery-Konzepten, ob in der Vergangenheit der Rechnungszins gesenkt wurde, was zumindest teils zu Lasten der Eigenmittel vonstattenging und was die Risikotragfähigkeit in der Kapitalanlage grundsätzlich zunächst mindert. Weitere Faktoren eines Recovery-Konzepts können eine temporär höhere Anrechnung des ewigen Neuzugangs oder eine Anpassung der strategischen Allokation sein. Weiter kann ein Versorgungswerk die Risikotragfähigkeit durch Aufbau weiterer Reserven erhöhen.

Dass ein Risikomessansatz auch zur Anlegergruppe passt, kann nur sinnvoll sein. Kreditinstitute beispielsweise können mit Value-at-Risk sehr gut arbeiten –Versorgungswerke mit ihrem sehr langfristigen Investmentansatz hingegen haben davon aber keinen bedeutenden Nutzen. Nicht zweckdienlich ist ein Stresstest aber auch, wenn die Beteiligten nur die in einer Überbürokratie entstandenen Formalien erfüllen, wie etwa die europäische Gesetzgebung zu Solvency II und zum ESG-Reporting. In Nordrhein-Westfalen hingegen agierte ein überschaubarer Kreis von Regulierern und Nutzern – und dies mit sichtbarem Erfolg. Vielleicht auch, weil das Ziel für alle Seiten klar ist: „Wichtig ist, dass alle 91 berufsständischen Versorgungswerke in Deutschland auch die nächste Krise gut durchstehen“, sagte Jens Hennes. „Dafür bietet der Stresstest 2.0 die passende Grundlage.“

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