Strategien
1. März 2015

Von der Dramatisierung zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung

Aufrichtig, kritisch, konsequent. Das sind Attribute, die Dr. Jürgen Stark kennzeichnen. Der diesjährige Preisträger in der portfolio-Award-­Kategorie „Industry Achievement“ spricht im Interview über die Aufwertung des Franken, die Belange der Griechen und die Vorhaben der EZB.

Interview mit Dr. Jürgen Stark, Gewinner des portfolio-Leserpreises im Jahr 2015

Herr Dr. Stark, welche Implikationen hat die Wechselkursentscheidung der Schweizer ­Nationalbank (SNB) auf die Politik der EZB, den Euro und den Anleihenmarkt?
Die Lösung des Schweizer Franken vom Euro musste ­irgendwann erwartet werden. Keine Zentralbank kann dauerhaft gegen den Markt intervenieren. Außerdem muss die SNB die ­Risiken in ihrer sehr stark aufgeblähten ­Bilanz im Blick behalten. Die Bindung des Franken an den Euro war immer eine­ einseitige Entscheidung der SNB. Es gab hier nie irgendwelche Verpflichtungen der EZB. Auswirkungen auf die Politik der EZB hat diese Entscheidung der SNB nicht. Es war ja eher umgekehrt, dass die erwarteten Entscheidungen des EZB-Rates vom 22. Januar die Entscheidung der SNB befördert ­haben. Der Franken hat seit dem 15. Januar dramatisch gegenüber dem Euro aufgewertet. Das trifft die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz empfindlich. An den Anleihemärkten ist vorübergehend zusätzliche Nervosität aufgetreten, die aber inzwischen durch andere Faktoren überlagert wird.

Und welche Implikationen hat der Ölpreisverfall?
Der Ölpreisverfall hat weitreichende ­Umverteilungseffekte von den ölexportierenden Ländern weg hin zu den ölimportierenden Ländern. Das betrifft Wachstum und Einkommen. Mit Ausnahme der Mitte der 1980er haben wir immer die gegenläufige Entwicklung erlebt. Der gesunkene Ölpreis verringert die Produktionskosten und führt über ­einen deutlichen Rückgang der Inflationsrate zu einer Stärkung des real verfügbaren Einkommens, was letztlich zu einer Erhöhung des privaten Verbrauchs und damit zu stärkerem wirtschaftlichen Wachstums führt.

Sehen Sie die deflationären Tendenzen in der Eurozone mit Sorge?
Man muss verstehen, warum die Infla­tionsrate so stark zurückgegangen ist und warum wir derzeit im negativen Bereich sind. Es ist doch in erster Linie der Verfall des Ölpreises, der die Inflationsrate auch in anderen Volkswirtschaften deutlich sinken ließ. Das ist also kein eurospezifisches Problem.
Allerdings kommen bei uns zusätzliche Faktoren hinzu, nämlich zum Beispiel der noch nicht abgeschlossene Anpassungs­prozess der relativen Preise in den Peripherie­staaten, um wieder wettbewerbsfähiger zu werden. Man hat über seine wirtschaftlichen Verhältnisse gelebt und die „Luft“ der ver­gangenen Übertreibungen muss nun ent­weichen.

Ist Deflation wirklich so schlimm? Wäre ­sie nicht eher ein nötiges Gesundschrumpfen?
Stabilisiert sich der Ölpreis, wird sich auch die Inflationsrate wieder stabilisieren. Weder verstehe ich die Panikmache um die leicht negativen Inflationsraten noch die politische Reaktion der EZB darauf, die mit den neuen Maßnahmen einen weiteren Schritt in die Finsternis gemacht hat.
Wir haben es nicht mit „schlechter“ ­Deflation zu tun. Sie wäre gekennzeichnet durch eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale von Preisen, Löhnen, wirtschaftlicher Produktion und dramatisch ansteigender ­Arbeitslosigkeit. Eine solche Entwicklung ­wäre von negativen Erwartungen geprägt. Das heißt, Investitionen und Käufe würden in der Erwartung weiter fallender Preise in die Zukunft verschoben.
Wir sind nicht in diesem Szenario. ­Deshalb hätte die EZB durch die derzeitige Entwicklung „hindurch schauen“ sollen. Der private Verbrauch zeigt sich relativ robust und das Verbrauchervertrauen ist relativ hoch. Aus der Dramatisierung der derzeitigen Entwicklung kann aber auch eine sich selbst erfüllende Prophezeiung resultieren.

Wie sinnvoll ist der Ankauf von verbrieften Unternehmenskrediten und Pfandbriefen im Vergleich zu dem von Staatsanleihen?
Mit dem Kauf von Kreditverbriefungen und Pfandbriefen soll ja gemeinsam mit dem Ankauf von Staatsanleihen eine ­massive ­Bilanzexpansion der EZB ­beziehungsweise des Eurosystems ­erreicht werden. Volumenmäßig ­dominiert natürlich der Markt von Staatspapieren. Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang aber allen drei Instrumenten gemeinsam, dass mit den EZB-Interventionen die ­Märkte völlig verzerrt werden. Durch den selektiven Kauf bestimmter Produkte diskriminiert die EZB andere ­Finanzinstrumente. Seit mehreren Jahren reflektieren doch zum Beispiel die Zinsen auf Staatspapiere bestimmter Euroländer nicht mehr die Risiken. Die Risikoprämien sind signifikant ­zurückgegangen. Das gibt der Politik völlig falsche Signale.
Hinzu kommt bei den Kreditverbriefungen, dass die EZB diesen Markt wieder beleben möchte. Zweifellos sind Verbriefungen ein äußerst wichtiges Instrument. Es ist aber nicht Aufgabe einer Zentralbank, dieses zu fördern. Ein Markt muss sich selbst entwickeln können, wenn die regulatorischen Rahmenbedingungen entsprechend gestaltet werden.

Ist, auch wenn die Zinslast relativ niedrig­ ist, eine Verschuldung von 174 Prozent­ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) für Griechenland wirklich tragbar?­
Griechenland war seit 2010 bereits mehrfach insolvent. Die Insolvenz wurde aber ­immer wieder durch neues Geld der euro­päischen Partner und des IWF oder – wie im letzten Quartal 2012 – durch die EZB und die griechische Zentralbank abgewendet. Es ist wohl wenig realistisch zu glauben, dass Griechenland, wie vorgesehen, bis 2022 seinen Schuldenstand auf deutlich weniger als 110 Prozent des BIP zurückführen kann. Dies könnte nur durch einen erneuten Schuldenschnitt gelingen. Aber auch das würde die Probleme Griechenlands nur temporär ­lindern. Die Frage nach einem tragfähigen griechischen Wirtschaftswachstumsmodell bleibt offen.

Wäre die Aufspaltung des Eurolands in Nord und Süd eine Lösung?
Ganz und gar nicht. Nachdem wir die Ost-West-Spaltung Europas glücklicherweise überwunden haben, darf es jetzt keine Nord-Süd-Spaltung geben. Natürlich wurden ­Fehler gemacht und man hat die kulturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten unterschätzt. Auch ich war der Meinung, dass wir mit dem Maastricht-Vertrag, mit Mandat und Unabhängigkeit der EZB auf dem Weg zu einer europäischen Stabilitätskultur seien. Das war ein Irrtum.
Die Europäische Zentralbank ist während der Krise zu einem mächtigen „politischen Spieler“ geworden. Sie missbraucht aus meiner­ Sicht ihre Unabhängigkeit und hat neue Aufgaben übernommen.
Die heutige Länderzusammensetzung des Euroraums konnte sich ja vor 20 Jahren niemand vorstellen. Der Euro wurde in ­Ländern eingeführt, die nicht die erforder­liche Qualifikation hatten und die nicht die notwendige Disziplin aufbrachten, die die Mitgliedschaft in einer Währungsunion nun einmal erfordert. Aber der Euro ist unumkehrbar, solange Frankreich und Deutschland den politischen Willen dazu haben. ­Dennoch wird sich zeigen, dass die Länderzusammensetzung des Euroraums angesichts der nach wie vor ungelösten ­gewaltigen wirtschaftlichen und finanziellen Probleme in dem einen oder anderen Land nicht unum­kehrbar sein wird.

Sie traten aus Protest gegen die Staatsanleihekäufe als EZB-Chefvolkswirt zurück. Sehen Sie Ihren Rücktritt aus heutiger Sicht als ­Fehler an?
Der Kauf von Staatsanleihen Italiens und Spaniens im August 2011 und die von der EZB diktierte Konditionalität waren der ­Anlass meines Rücktritts. Die EZB hatte ihr Mandat überschritten. Es ging ja nicht mehr um Geldpolitik, sondern darum, die Finanzierungskosten einzelner Länder zu senken. Das ist Fiskalpolitik.
Die Gründe für meinen Rücktritt lagen tiefer. Es war ein Protest gegen den staatsstreichartigen Umbau der Wirtschafts- und Währungsunion im Jahr 2010. Was in jahrelangen Verhandlungen über Prinzipien, ­Regeln und Verfahren zum Maastricht-Vertrag geführt hatte, wurde über Nacht über Bord geworfen. Zum Beispiel die ­Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für ihre Staatsfinanzen, also keine Einstandspflicht für die Schulden anderer Länder und das Verbot der monetären Finanzierung der Staatshaushalte. Das ist heute eine andere Währungsunion!
Auch heute bin ich noch davon überzeugt, dass meine Entscheidung richtig war. Man kann nicht lange Zeit aus purer Loyalität gegen seine Überzeugung arbeiten. Man verliert seine Identität. Die inhaltlichen Divergenzen waren unüberbrückbar geworden.
Was ich mir vorwerfe, ist, dass ich offenbar viel zu lange zu loyal gewesen bin, dass ich diesen Schritt schon früher hätte tun sollen und dass die Zeit zwischen Ankündigung und Vollzug meines Rücktritts sehr lang wurde.

portfolio institutionell Ausgage 2/2015

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