Interview: Risiko ist zweckgebunden
Auch Nobelpreisträger können bekanntlich irren. Sie können aber auch Lesenswertes zu Strukturproblemen bei Banken, zu Bail-outs und Risikomanagement sagen.
Robert C. Merton im Gespräch mit Heike Gorres (portfolio) und Detlef Glow (Lipper).
Vor 16 Jahren haben US-Finanzinstitute den LTCM-Hedgefonds, an dem sie beteiligt waren, finanziell gestützt, um ihn vor dem Kollaps zu bewahren. Ein Kollaps hätte einen Zusammenbruch des US-Finanzsystems bewirken können, hieß es. Mit Beginn der Finanzkrise 2008 gab es umfangreiche staatliche Bankenrettungen. Sehen Sie Parallelen? Wie beurteilen Sie die Rettungsprogramme?
Die Lage bei Lehman Brothers 2008 war viel komplexer als bei LTCM. Ich weiß nicht, warum sie nicht versucht haben, Lehman zu halten, ähnlich wie damals LTCM. Oder vielleicht haben sie es versucht, und es ist nicht bekanntgeworden. Eine Überraschung war die Schieflage bei Lehman allerdings nicht, auch wenn niemand vorhersehen konnte, wie groß der ganze Fall werden würde. Ein wesentlicher Punkt ist aus meiner Sicht, dass Banken und andere Finanzinstitute zwei Arten von Klientel haben: Kunden und Investoren. Ein Kunde möchte zum Beispiel Geld von seinem Konto abheben oder Zahlungen aus einem Lebensversicherungsvertrag erhalten, ohne dass diese Leistungen von der Verfassung der Bank abhängen. Anders ist es, wenn Sie eine Anleihe der Bank kaufen. In diesem Fall sind Sie Investor und rechnen damit, dass die Konditionen der Anleihe und die Geschäftsentwicklung der Bank zusammenhängen.
Was bedeutet das für die Banken in der Finanzkrise?
Ich glaube, ein Grund, warum es für Banken problematisch werden kann, ist, dass niemand ein Problem damit hat, wenn Investoren Geld verlieren. Ein Grundproblem vieler Banken heute ist eine starke Verflechtung zwischen Kunden und Investoren. Wegen dieser Verflechtung ist es nicht mehr möglich, dass Investoren ausfallen können, ohne dass auch die Kunden darunter leiden. Es ist also am wichtigsten, die Kunden zu schützen. Tun Sie das nicht, gefährden Sie letztlich den Kern des Systems – und das ist für mich das ganze Dilemma des „too big to fail“. Aus meiner Sicht sind daher zum Beispiel Coco-Bonds sinnvoll, wenn es denn, zumindest in den USA, eine Änderung der Steuergesetze gibt.
Inwiefern?
Coco-Bonds werden unter festgelegten Bedingungen in Aktien gewandelt. Mit der Wandlung gibt es keinen Ausfall der Anleihe mehr. Und ohne Ausfälle gibt es von dieser Seite auch keine Auslöser mehr für Finanzinstitute, ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden nicht einzuhalten. Eine andere Möglichkeit wäre zu sagen: Wir unternehmen nichts weiter, da bei großen Institutionen der Staat für die Schulden garantiert. Das Beste wäre jedoch eine Methode in den Finanzinstituten, Kunden und Investoren zu trennen.
Die Wahrnehmung des Too-big-to-fail kommt daher, dass bei vielen Häusern die beiden Gruppen stark verbunden sind, die Kunden im Falle von Schwierigkeiten geschützt werden müssen und es schließlich in einen Bail-out mündet, einem Stützungsprogramm von außen. Im Fall des LTCM-Fonds haben mehrere Banken – allerdings nicht Lehman – mit Kapital geholfen und die Verantwortlichen entlassen. Ich hätte mir gewünscht, dass Ähnliches bei Lehman möglich gewesen wäre.
LTCM war zur damaligen Zeit zwar groß, aber im Vergleich zu den Größenordnungen bei Beginn der Finanzkrise eher klein …
Wenn Sie die Bilanzsummen vergleichen, dann war LTCM durchaus vergleichbar mit größeren Finanzinstituten. Eine andere Frage ist aber auch, welche Summen verloren gegangen wären, wenn Lehman nicht pleitegegangen wäre. Im Nachhinein ist es immer leicht zu sagen, was etwas unter dem Strich gekostet hat. Im Geschehen selbst ist es dagegen schwerlich abschätzbar, zu welchen Größenordnungen sich manche Schieflagen entwickeln können. Und es sind solche unvorhersehbaren Ausmaße, die das ganze System schocken können.
Zum Beispiel durch den Handel mit strukturierten Produkten …
Ja, dies und vieles andere. Der wesentliche Punkt dabei ist, dass Finanzhäuser die Dinge im Grunde solange vernünftig steuern können, wie sie dafür sorgen, dass sie dem treibenden Element für ausartende Schieflagen entgegenwirken. Das ist allerdings schon unter einfachen Marktannahmen nicht leicht. Und die reale Welt ist sehr viel komplexer und heute noch komplexer als zu Zeiten von LTCM. Die Situation bei LTCM war eine völlig andere als die späteren Bail-out-Maßnahmen in der Finanzkrise.
Stimmt es, dass Warren Buffett LTCM kaufen wollte, als dem Fonds die Liquidität ausging?
Richtig. Buffett wollte zusammen mit Goldman Sachs und AIG LTCM für vier Milliarden Dollar übernehmen. Er wollte die Positionen des Portfolios halten. Der Deal kam aber nie zustande, weil es noch offene Fragen gab, Buffett aber mit Bill Gates auf Kreuzfahrt in Alaska war und 1998 die Mobilfunktechnik in den Kinderschuhen steckte. Daraufhin wurde LTCM von einem Bankenkonsortium für 3,6 Milliarden Dollar übernommen und liquidiert. Von dem Betrag hatte ich persönlich nichts, weil die Banken mit der Liquidierung nichts verdienten. Dagegen hätte Buffett mit seiner Haltestrategie seinen Einsatz in zwölf Monaten verdoppeln können. That‘s Life!
Das war bitter für Sie und für Buffett eine teure Kreuzfahrt. Zur Zinspolitik der Zentralbanken: Die Zinsen liegen auf politisch gewollten Rekordtiefen, ohne die realen Wirtschaftsverhältnisse widerzuspiegeln. Welche Gefahren ergeben sich daraus für die europäische und die US-Wirtschaft?
Es behaupten wahrscheinlich nicht viele Leute, dass die Zentralbanken keinen Einfluss auf die Zinsen haben. Auf der anderen Seite wäre es sicher zu viel, zu sagen, sie hätten die vollständige Kontrolle. Die kurzfristigen Zinsen können sie kontrollieren – und das ist etwas ganz anderes als die längerfristigen Zinsen zu bestimmen. Was auch immer nun die längerfristigen Zinsen beeinflusst: Das niedrige Niveau wirkt sich etwa auf die Pensionsfonds und Versicherungen absolut verheerend aus! Und wie lange das währt, kann niemand sagen. Etwas nur zu vermuten oder aber zu wissen, ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ich meine, künftig sollten die politischen Entscheidungsträger, die Regierungen, die Implikationen ihres Handelns besser verstehen und sich besser koordinieren. Vielleicht haben sie auch mit den Folgen für die Pensionswirtschaft gerechnet und trotzdem so entschieden. Es ist allerdings für jemanden, der nicht entscheiden muss, immer leicht zu entscheiden.
Hängt die angespannte Lage nicht auch mit der Regulierung zusammen? Etwa die Forderung nach einer Mark-to-Market- oder marktnahen Bewertung anstatt nach dem Buchwert?
Das würde ich nicht sagen. Die Frage ist vielmehr: Warum meine ich, dass dieser so definierte oder jener anders definierte Preis angemessenen ist? Es ist ein großer Unterschied, zu sagen, dass eine Aktie günstig ist oder zu sagen: Sie kostet jetzt zehn Dollar, ist aber 20 wert – also trage ich sie für 20 Dollar in meine Bücher ein. Auf dem Papier habe ich dann das Geld verdoppelt, doch tatsächlich muss ich warten, bis ich die Aktie für 20 Dollar verkaufen kann. Warum also nicht bei der Bewertung beim Marktpreis bleiben? „Inoffizielle“ Preise sind zudem oft Ursache für Krisen.
Bei einer Mark-to-Market-Bewertung, so unvollkommen sie auch sein mag, wissen die Leute zumindest den Preis, zu dem das Asset gehandelt wird. Auch hier gilt für mich von fundamentaler Seite: Wenn die Verbindlichkeiten nicht mit den Assets oder der Habenseite übereinstimmen, gehe ich Risiken ein. Und das müssen wir darstellen.
Wie sollte ein Investor „Risiko“ in seinem Portfolio definieren und bewerten?
Wie ich Risiko bemesse, hängt unter anderem vom Zweck des Portfolios ab. Wenn ich zum Beispiel für die Altersvorsorge ab dem Renteneintritt investiere, dann geht es um ein späteres regelmäßiges Einkommen für einen bestimmten Lebensstandard. Das Risiko bezieht sich also nicht auf den Wert meines Portfolios, sondern auf das regelmäßige Einkommen, das ich erzielen möchte. Dann geht es darum, das Asset mit dem niedrigsten Risiko zu finden und die übrigen damit zu vergleichen. Das Asset mit dem niedrigsten Risiko ist eine Schuldverschreibung (Treasury Bill). Das spätere regelmäßige Einkommen wiederum ist eines der risikobehaftetsten Assets überhaupt. Viele Standardverfahren zur Bemessung von Risiko, etwa die Volatilität eines Assets, sind ganz brauchbar, sofern sie richtig interpretiert werden. Sie müssen sie nur immer mit dem Zweck Ihrer Investition in Beziehung setzen und korrekt interpretieren. Wichtig ist in dem beschriebenen Fall, ein stabiles regelmäßiges Einkommen zu erzielen, nicht einen stabilen Wert von Vermögen.
Es kommt also darauf an, was ich wie interpretiere.
Stellen Sie sich vor, ich habe einen Revolver mit zwölf Patronenkammern. Alle sind leer, Sie haben sich selbst davon überzeugt. Würden Sie sich für zehn Euro den Revolver an den Kopf halten und abdrücken? Vermutlich ja, denn die Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden, ist null. Nun fülle ich eine Kammer mit einer Patrone und lasse sie rotieren, bis sie zum Stillstand kommen. Wie groß müsste nun der Einsatz sein, damit Sie sich die Pistole an den Kopf halten und abdrücken? Würden Sie dies immer noch für zehn Euro tun?
Nein!
Das Beispiel soll nur klarmachen, wie groß der Unterschied sein kann zwischen einer Wahrscheinlichkeit von null und einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit. Viele sagen, es ist sehr wahrscheinlich, dass in der langen Frist die Aktienkurse steigen. Das scheint also nahezu eine sichere Entwicklung zu sein – nach dem Motto: Machen Sie sich keine Sorgen, langfristig werden die Kurse wieder zurückkommen. Wichtig dabei ist aber nicht allein die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, sondern auch der tatsächliche Effekt, wenn etwas passiert. Viele Fallgruben, gerade bei Versicherungen, rühren genau daher. Wie oft haben Sie gehört, dass sich langfristig die Aktienmärkte gut entwickeln?
Ständig, jeden Tag!
Und nun betrachten Sie Japan, ein politisch stabiles Land, eine große Volkswirtschaft, ein wohlhabendes Land. Im Januar 1990 stand der Nikkei bei 39.000 Punkten. Jetzt, nach 24 Jahren, liegt er bei rund 14.000 Punkten. Vor zwei Jahren waren es sogar 8.000 Punkte. Wie kann da jemand allen Ernstes sagen, dass so etwas nicht passiert, wenn es gerade passiert ist? War es wahrscheinlich, dass das passiert? Nein! Dennoch ist es passiert.
Sie wissen also im Vorhinein nicht, ob eine Entscheidung gut ist oder nicht, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für die eine Seite sehr hoch und die andere sehr niedrig ist. Wenn Sie wirklich glauben, dass Sie mit all den üblichen Annahmen und mathematischen Modellen zur langfristigen Aktienkursentwicklung, Zinsentwicklung und so weiter alles hinreichend vorausberechnen können, dann können Sie alle wirtschaftlichen Probleme lösen, und nicht allein die Probleme bei den Pensionsfonds. Es braucht heute also vor allem sehr überlegte Entscheidungen über sehr wichtige Fragen.
Robert C. Merton hat die Finanzwelt in zweierlei Hinsicht geprägt. Einerseits wirkte er an der berühmten Black-Scholes-Formel mit und erhielt 1997 dafür den Nobelpreis. Anderseits ist sein Name für immer mit dem Untergang des Hedgefonds LTCM (Long Term Capital Management) verbunden. Dem Unternehmen, das er mit anderen Wissenschaftlern und Bankern Anfang der 90er Jahre gründete, wurde die Russlandkrise 1998 zum Verhängnis. Aus Angst vor einem Zusammenbruch der Finanzmärkte wurde LTCM gerettet – die größte Rettungsaktion weltweit vor der Finanzkrise. Heute lehrt der 70-Jährige in Harvard.
portfolio institutionell, Ausgabe 12/2014
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