Im Schwitzkasten der Demografie
Die demografische Entwicklung stellt das Schweizer Rentensystem vor enorme Herausforderungen. Das Projekt „Altersvorsorge 2020“ soll Linderung verschaffen.
„Pensionskassen, die in diesen Tagen eine Asset-Liability-Studie durchführen lassen, erleben meist eine böse Überraschung: Die Renditeperspektive der aus der Studie hervorgehenden Anlagestrategie liegt unter der Sollrendite.“ Diese Einschätzung stammt aus der Feder von Marco Bagutti und wurde in der Oktober-Ausgabe der „Schweizer Personalvorsorge“ veröffentlicht. Bagutti meldet sich in dem lesenswerten Magazin regelmäßig zu Wort. Falls Sie Bagutti nicht kennen: Er ist Leiter Kapitalanlagen der Stiftung „Auffangeinrichtung BVG“. Dabei handelt es sich um eine nationale Vorsorgeeinrichtung der Schweiz. Im Auftrag des Bundes fungiert sie als Auffangbecken und Sicherheitsnetz der zweiten von insgesamt drei Säulen des eidgenössischen Rentensystems.
In seinem Kommentar stellte Bagutti eine bedrohliche Diagnose. Er wies darauf hin, dass diejenigen Pensionskassen, die sich auf der sicheren Seite wähnen, weil die in einer ALM-Studie älteren Datums ausgewiesene Renditeperspektive über der Sollrendite liegt, sich vermutlich getäuscht sähen, würden sie die Berechnungen aktualisieren lassen. Was der Anlagechef der Stiftung „Auffangeinrichtung BVG“ damit sagen will: Pensionskassenexperten werden eine solche Situation, bei der die Renditeperspektiven der Anlagestrategie unter der Sollrendite liegt, niemals hinnehmen. „Sie sind kraft ihres Amts verpflichtet, dem Stiftungsrat Maßnahmen zu empfehlen, die diesen unhaltbaren Umstand beseitigen.“ Ansonsten könnten sie umfangreich haftbar gemacht werden.
Dabei reiche es nicht, mahnte Bagutti, wenn die Renditeperspektive exakt der Sollrendite entspreche. Vielmehr müsse die Perspektive höher sein, um einen gewissen Deckungsgrad halten, Kosten tragen und Wertschwankungen bilden zu können. Die von Marco Bagutti skizzierte Problematik resultiert zunächst einmal aus den rekordtiefen Zinsen. Sie wurde verschärft durch die Einführung von Negativzinsen durch die Schweizer Nationalbank am 15. Januar dieses Jahres und das kurz darauf begonnene Kaufprogramm von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank. Baguttis Fazit: „Nie in der Vergangenheit war der Unterschied zwischen Marktzinsen für risikoarme Anlagen und den von den Pensionskassen angewandten technischen Zinsen negativer.“
Schmerzhafte Einschnitte
Doch welche Wege stehen den Altersvorsorgeeinrichtungen in dieser Situation zur Verfügung? Nach Einschätzung des Anlagechefs der Stiftung „Auffangeinrichtung BVG“ sei es schmerzhaft, aber nachhaltig, wenn Umwandlungssätze, technische Zinsen und Sparbeiträge angepasst würden. Solche Maßnahmen führten zu einer tieferen Sollrendite, „die idealerweise unter die Renditeperspektive zu liegen kommt“. Will sagen: Die künftigen Schweizer Rentner werden mehr für das Alter zurücklegen und/oder nach dem Berufsleben den Gürtel enger schnallen müssen.
Auf diese Entwicklung deutet in jüngster Zeit auch das umstrittene Reformprojekt „Altersvorsorge 2020“ hin. Damit will der Schweizer Bundesrat bis zum Ende der laufenden Dekade eine umfassende und vor allem gleichzeitige Revision der ersten und zweiten Rentensäule durchführen. Vorbereitend hatte die Kammer am 19. November 2014 eine Botschaft zur Reform der Altersvorsorge verabschiedet. Eines der Ziele besteht darin, das Leistungsniveau der Altersvorsorge zu erhalten und das finanzielle Gleichgewicht der ersten und zweiten Säule zu sichern.
Den Gürtel enger schnallen
Die Lebenserwartung steigt in der Schweiz, und das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenbeziehern verschlechtert sich. Das ist keine neue Entwicklung, sondern seit geraumer Zeit bekannt. Nur professionell angegangen wurden die damit einhergehenden Belastungen für das Rentensystem bis dato nicht. Vielmehr gab es immer wieder nur halbherzige Reformversuche, obwohl die erste Rentensäule vor finanziellen Problemen steht. Aktuelle Projektionen der Alters- und Hinterlassenen- sowie der Invalidenversicherung (AHV/IV) zeigen eine Finanzierungslücke, die bis im Jahr 2030 auf 8,3 Milliarden Franken anwachsen wird. Ohne Gegenmaßnahmen werde das Vermögen der AHV/IV in den kommenden Jahren kontinuierlich abnehmen und noch vor 2030 aufgebraucht sein, heißt es in einer Untersuchung.
Das eidgenössische Rentenkonstrukt ist vergleichbar mit dem deutschen Dreisäulensystem: Säule eins umfasst die Renten der Alters- und Hinterlassenen- sowie der Invalidenversicherung. Sie sollen eine sichere Existenz gewährleisten und den „absolut notwendigen Lebensbedarf“ decken. Versichert ist die gesamte Wohnbevölkerung. Die auf dem Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) basierende zweite Säule dient zusammen mit der AHV/IV der Weiterführung des gewohnten Lebensstils. Die Arbeitgeber in der Schweiz sind verpflichtet, ihre Arbeitnehmer bei einer Vorsorgeeinrichtung zu versichern und – wie bei der AHV/IV – mindestens die Hälfte der Beiträge zu übernehmen.
Die Finanzierung der zweiten Säule erfolgt, im Gegensatz zur AHV/IV und den meisten übrigen Sozialversicherungszweigen, im Kapitaldeckungsverfahren: In einem Sparprozess wird für jede versicherte Person das im Leistungsfall für die Rentenzahlung benötigte Kapital gebildet. Die „Altersvorsorge 2020“ setzt genau hier an, auch wenn das letzte Wort des Reformvorhabens wohl noch längst nicht gesprochen sein dürfte. Erst kürzlich hat zunächst der Ständerat, die kleine Kammer des Parlaments der schweizerischen Eidgenossenschaft mit insgesamt 46 Sitzen, sich der Thematik angenommen. Ergebnis: Mit nur fünf Gegenstimmen hat die Kammer entsprechende Beschlüsse zu dem Projekt verabschiedet.
Sie mutet damit nach Einschätzung von Paul Rechsteiner, Ständerat der Sozialdemokratischen Partei, den künftigen Rentnerinnen und Rentnern einiges zu, wie er in einem Beitrag für das Magazin „Schweizer Sozialversicherung“ ausführt. Rechsteiner spricht von „harten Einschnitten“, die in einer Volksabstimmung keine Chance hätten. Die Entscheidungen sehen unter anderem eine Angleichung des Renteneintrittsalters von Männern und Frauen auf 65 Jahre vor. Frauen müssen demnach ein Jahr länger arbeiten als bislang. Die Übergangsfrist zur Angleichung des Renteneintrittsalters beträgt drei Jahre. Die AHV verspricht sich allein hiervon eine finanzielle Entlastung von insgesamt 1,3 Milliarden Franken im Jahr 2030.
Weitere Eckpunkte des Reformprojekts: Der heute geltende Freibetrag für Einkommen im Rentenalter wird aufgehoben; auch das soll die Rentenkasse stützen. Der Mindestumwandlungssatz zur Berechnung der Renten in der obligatorischen beruflichen Vorsorge wird von 6,8 auf sechs Prozent gesenkt. Neurenten sinken dadurch um rund zwölf Prozent. Im Gegenzug will der Ständerat neue AHV-Renten für Einzelpersonen um 70 Franken pro Monat erhöhen. Zur Finanzierung der höheren AHV-Renten werden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je 0,15 Lohnprozente zusätzlich erhoben. Neu ist auch folgender Punkt: Beiträge an die Pensionskasse müssen künftig ab 21 Jahren und nicht erst ab 24 Jahren entrichtet werden, was zur Bildung von zusätzlichem Alterskapital führen soll. Der Bund deckt weiterhin 19,55 Prozent der Ausgaben der AHV. Diese bekommt zudem den vollen Ertrag des sogenannten Demografieprozents der Mehrwertsteuer.
Altersguthaben reichen nicht aus
Nach Einschätzung von Christine Egerszegi-Obrist, Ständerätin mit Parteibuch der FDP, ist eine Stabilisierung der Altersvorsorge in der Schweiz dringend nötig. „Die Leute werden älter, und das gleiche Altersguthaben reicht für die gewonnenen Rentenjahre nicht aus.“ Die liberale Politikerin ruft in Erinnerung, dass in der Vergangenheit zahlreiche Vorhaben zur Reformierung des Rentensystems gescheitert sind. Daran anknüpfend betont sie, dass die Mehrwertsteuer zur Finanzierung der ersten Rentensäule in drei Schritten um einen Prozentpunkt erhöht werde. Seit 1. Januar 2011 gilt in der Schweiz der normale Mehrwertsteuersatz von acht Prozent, der reduzierte Satz liegt bei 2,5 Prozent für alltägliche Güter wie Nahrungsmittel. Der Politikerin Egerszegi-Obrist zufolge steigt der Normalsatz letztlich aber nicht um einen ganzen Prozentpunkt, sondern nur auf 8,7 Prozent, weil die sogenannte IV-Zusatzfinanzierung ausläuft. Die Schweiz hatte nach einer Volksabstimmung im September 2009, deren Resultat äußerst knapp ausgefallen war, die Mehrwertsteuer zugunsten der Invalidenversicherung befristet erhöht.
Die Presse kommentierte das aktuelle Reformvorhaben kritisch. So monierte die „NZZ am Sonntag“, die vorgeschlagene Altersvorsorgereform sei „keine Reform“, sondern „ein Paket von Steuer- und Beitragserhöhungen“. Letztere gingen vor allem zulasten der jüngeren Erwerbstätigen. Die Angleichung des Rentenalters der Frauen an das der Männer sei „kein eigentlicher Reformschritt, sondern eine Selbstverständlichkeit“. Es sei eine politische Bankrotterklärung, dass man eine echte Reform nicht einmal versuche, nämlich das Rentenalter zu erhöhen.
Nichts helfen würde indessen ein höheres Rentenalter den Rentnerkassen des Bundes, denen ein „finanzielles Loch“ drohe, wie die „NZZ am Sonntag“ hervorhebt. Wegen des niedrigen Zinsniveaus müsse man damit rechnen, dass gleich mehrere Vorsorgewerke des Bundes in den nächsten Jahren in Unterdeckung fallen.
Festzuhalten bleibt: Das Projekt „Altersvorsorge 2020“ ist ebenso komplex wie umstritten. Und weil es die Betroffenen unterschiedlich stark belastet, werden sich die Geister wohl noch lange daran scheiden.
Von Tobias Bürger
portfolio institutionell, Ausgabe 11/2015
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