Versicherungen
15. Februar 2016

Eine neue Zeitrechnung

Nach 15 Jahren zähem Ringen ist Solvency II nun Realität für die euro­päische Versicherungsbranche. Das Ende der Reise ist damit aber längst nicht erreicht. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, an welchen Stellschrauben die Aufsicht noch drehen wird und wo die deutsche Assekuranz steht.

Jedes neue Jahr wird mit einem imposanten Feuerwerk begrüßt. Punkt Mitternacht schossen auch 2016 wieder zahlreiche Raketen in den Nachthimmel. Für Europas Versicherungsbranche bedeuteten diese Böller das Einläuten einer neuen Zeitrechnung. Denn am 1. Januar trat das neue, risikobasierte Aufsichtsregime Solvency II in Kraft, das Eigenmittelanforderungen mit den Risiken verknüpft, die ein Unter­nehmen eingeht. Mit dem Inkrafttreten geht ein langer und zäher Prozess zu Ende. Denn die erste Idee für eine Reform der Ver­sicherungsaufsicht keimte bereits vor 15 Jahren auf. Was folgte, waren jahre­lange Verhandlungen auf politischer Ebene, insgesamt sechs Aus­wirkungsstudien und mehrmalige Verschiebungen des Starttermins. Die zugrundeliegenden rechtlichen Bestimmungen türmen sich inzwischen auf mehr als einen halben Meter. Nach Berechnungen des Gesamtverbands der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) stapeln sich die veröffentlichten Dokumente zu Solvency II auf 67,2 Zentimeter (Stand: Februar 2015). Das sind 6.716 Seiten – unter der Annahme, dass eine Seite 0,1 Millimeter dick und einseitig bedruck ist. „Es gibt zwar viel Kritik an Zahl und Umfang unserer Richtlinie“, weiß Gabriel Bernardino, Chef der europäischen Versicherungsaufsicht Eiopa, wie er im Interview mit dem GDV-Magazin „Positionen“ Ende November 2015 erklärte. „Aber genau dort finden sich die Antworten auf die meisten Fragen“, ist Bernardino überzeugt. Aber eben nicht auf alle. Und so dürfte der Berg an Dokumenten wohl noch weiter­ wachsen.

Nachbesserungen soll es beispielsweise in puncto Risikobeurteilung von Staatsanleihen geben. In seiner Rede auf der Eiopa-Konferenz­ im November vergangenen Jahres machte Bernardino keinen Hehl daraus, dass man sich dieses Thema anschauen muss: „Die kommenden Jahre sollten für weitere Analysen zur Kalibrierung von unterschiedlichen Asset-Klassen unter Solvency II genutzt werden – inklusive Staatsanleihen.“ Allerdings sei eine mögliche Berücksichtigung von Staatsrisiken in der ersten Säule im Standardmodell von Solvency II komplex. „Wir arbeiten an einem Ansatz für den kompletten Finanz­sektor, der Versicherungen und Banken abdeckt. Eine solche Lösung muss aber konsistent sein“, so der Eiopa-Chef in seiner Rede. Bis sich hier etwas bewegt, kann es also noch eine Weile dauern.

Bernardino und seine Aufsichtskollegen sind sich bewusst, dass Versicherer in einem schwierigen makroökonomischen und finanziellen­ Umfeld agieren. Eines der größten Risiken seien die anhaltend niedrigen Zinsen. „Momentan gibt es zwei Gründe, warum ein Unternehmen untergehen kann: das eigene Geschäftsmodell und das niedrige Zinsniveau“, erklärte Bernardino im Interview mit dem GDV-Magazin. Solvency II helfe seines Erachtens, könne aber Firmen­pleiten nicht verhindern: „Es setzt die richtigen Anreize, denn es sorgt dafür, die Versprechen von Versicherern besser einschätzen zu können.“ Wie der Ausweg aus dem Zinsdilemma aussieht, darauf gibt es von den Aufsehern jedoch keine Antwort. Auf einer Pressekonferenz am Rande der Eiopa-Konferenz wies Bernardino lediglich darauf hin: „Solvency I hat Versicherungen Limits gesetzt. Unter Solvency II können sie nun ihre eigene Entscheidung treffen, welche Risiken sie eingehen wollen und können.“ Sie sollten sich jedoch hüten, sich durch das niedrige Zinsniveau zu einer Renditejagd hinreißen zu lassen. Bei der Vorstellung des zweiten Finanzstabilitätsreports 2015, den die Eiopa­ Anfang Dezember veröffentlichte, warnte der Oberaufseher die europäische Versicherungswirtschaft davor, ihre Risikotragfähigkeit zu überschreiten.

Neben dem Niedrigzinsniveau bereitet die Eiopa ein mögliches Double-­Hit-Szenario, bei dem gleichzeitg der Wert der Aktiva sinkt und die Verpflichtungen steigen, die größten Sorgen. Dieses Szenario soll neben dem Niedrigzinsszenario 2016 in einem neuen, europaweiten Stresstest durchgespielt werden. „Ich bin zuversichtlich, dass die in diesem Stresstest vorgesehenen Schocks es der Eiopa und den nationalen Aufsehern erlauben werden, Maßnahmen zu entwickeln, die diese Risiken verringern werden“, so Bernardino.

GDV wehrt sich
Dass das anhaltend niedrige Zinsumfeld für die deutsche Ver­sicherungsbranche „zweifellos eine Herausforderung“ darstellt, räumt auch der GDV ein. Der Verband setzt sich jedoch vehement gegen den Vorwurf zur Wehr, dass Lebensversicherer hierzulande unangemessene Risiken eingehen, um langfristige Garantiezusagen zu erfüllen. „Dies würde auch den erfolgreichen Übergang zu Solvency II infrage stellen“, erklärte der GDV in einer Stellungnahme. Der Gesamtverband sieht seine Schäfchen gut auf das neue Aufsichtsregime vorbereitet – und diese sehen das selbst ebenso. Laut einer Umfrage von Axa Investment Managers, für die im Sommer vergangenen Jahres 56 Entscheider in deutschen Versicherungskonzernen befragt wurden, bezeichnete die Mehrheit Solvency II damals zwar als Herausforderung, sah sich aber trotzdem gut gerüstet. Das gilt auch für den Mutterkonzern von Axa IM. In einer Mitteilung ließ der Versicherungskonzern Mitte Dezember wissen, dass man bei der Einführung von Solvency II keine Übergangsregelungen in Anspruch nehmen werde. Axa erfülle schon zum Start die Anforderungen an die Eigenmittelausstattung. „Wir agieren aus einer Position der finanziellen Stärke heraus“, so Dr. Patrick Dahmen, Mitglied des Axa-Vorstandes. Die Gesamtverzinsung für 2016 senken die Lebensversicherer der Axa von 3,9 Prozent im Vorjahr auf 3,6 Prozent. Diese Anpassung sei der „anspruchsvollen Kapitalmarktsituation“ geschuldet.

Auf Übergangsregeln verzichten will auch die Alte Leipziger. Wie der Konzern Ende November mitteilte, werden diese nicht benötigt. Die Anforderungen an die Eigenmittelausstattung durch Solvency II werde die Alte Leipziger schon bei Einführung dieser neuen Regelungen erfüllen. Beim Eigenkapital weist die Gesellschaft nach eigenem Bekunden mit rund 725 Millionen Euro einen hervorragenden Wert auf. Auch künftig will die Alte Leipziger – dank ihrer Finanzstärke, wie es hieß – klassische Produkte mit Zinsgarantien anbieten. Die Lebens­versicherung werde 2016 die Gesamtverzinsung stabil bei 3,05 Prozent halten.

Vorsicht bei Branchenvergleichen
Doch nicht alle Versicherungsunternehmen werden sich wie Axa und die Alte Leipziger in Verzicht üben. Das heißt, wenn Versicherungsunternehmen im Laufe des nächsten Jahres die mit Solvency II einhergehenden Berichtspflichten erfüllen und Kennzahlen zur Solvenz veröffentlichen, ist bei Branchenvergleichen Vorsicht angesagt. Ein Beispiel hierfür ist die Gothaer. Der in Köln ansässige Versicherungskonzern hat zwar genau wie Axa im Lebenbereich die laufende Gesamtverzinsung bestehender Verträge mit Beginn des neuen Jahres­ reduziert, und zwar von 3,1 auf 2,5 Prozent. Wie der Konzern auf einer Pressekonferenz Mitte Dezember wissen ließ, will man jedoch die von der Aufsicht gestatteten Übergangsregelungen nutzen und zunächst darauf zurückgreifen. Mit Blick auf Solvency II gab Harald Epple, Vorstand für Kapitalanlage im Gothaer-Konzern, außerdem zu bedenken, dass die Kennzahl „Return on Solvency Capital“ an Bedeutung gewinne und nun bei großen Neuanlagen als eine von mehreren Kennziffern berücksichtigt werde. An der Entscheidung von vor nunmehr drei Jahren, kein internes Modell für Solvency II aufzubauen, hat die Gothaer nicht gerüttelt. Man habe das Standardmodell der Aufsicht im Griff, so der Vorstand. Ein internes Modell hätte eine Verfünffachung des internen Aufwands zur Folge gehabt. Auf den Papierberge umfassenden Genehmigungsprozess für ein internes Modell hat auch die Signal Iduna verzichtet.

Zweifellos erfordert das Aufsetzen eines internen Modells viel Zeit und Kraft. Das lohnt sich aber durchaus. Carolin Schnabel, Abteilungsleiterin Kundenbetreuung für Versicherungen und Pensionseinrichtungen bei der Commerzbank, sieht in internen Modellen einen Wettbewerbsvorteil: „Üblicherweise verbessert sich die Kapitaleffi­zienz um 20 bis 30 Prozent im Vergleich zu einem Standardmodell.“ Dies habe sich im Ausland, genauer gesagt in Großbritannien, wo viele Versicherer ein internes Modell nutzen, gezeigt. In Deutschland haben im vergangenen Jahr laut Bafin 32 Versicherungsunternehmen  einen Antrag zur Genehmigung eines internen Modells gestellt. Noch vor Weihnachten sollten diese Unternehmen von der Aufsichtsbehörde­ Post bekommen. Ob der Bafin dieses Vorhaben gelang, ist der Redaktion­ von portfolio institutionell nicht bekannt. Klar ist nur, dass die Aufseher schwer damit zu kämpfen hatten – im wahrsten Sinne des Wortes. Zumindest äußerte sich Dr. Felix Hufeld, Bafin-Präsident, im November des vergangenen Jahres entsprechend. „Die Anträge zur Genehmigung eines internen Modells sollten nicht schwerer wiegen als der Aufseher“, sagte Hufeld mit Blick auf einen 200 Kilo schweren Antrag, den eine Gesellschaft eingereicht hatte. Um welchen­ Versicherungskonzern es sich dabei handelte, verriet er nicht. Man darf vermuten, dass es eines der Schwergewichte in der deutschen Versicherungswirtschaft war.

Argusaugen auf interne Modelle
Das Dreigestirn – Allianz, Munich Re und Talanx – hatte bei der Bafin eine Genehmigung für ein internes Modell eingereicht und vor Weihnachten einen positiven Bescheid bekommen. Der Finanzvorstand der Talanx, Dr. Immo Querner, zeigte sich darüber erfreut: „Mit dem internen Modell kann die Talanx-Gruppe mit Rück- und Erst­versicherung als stark diversifizierter Konzern anders als mit dem Standardmodell ihre Risikostruktur bestmöglich abbilden.“ Eigenem Bekunden nach hat die Talanx bereits 2007 mit den Arbeiten an ihrem internen Modell begonnen und stand seitdem in engem Austausch mit der Bafin. Die Solvenzquote nach Solvency II lag zum Stichtag 31.Dezember 2014 regulatorisch bei 184 Prozent und ökonomisch bei 271 Prozent. Damit sieht sich die Talanx komfortabel kapitalisiert. Ähnliche Worte sind auch aus München zu vernehmen. „Munich­ Re ist auf die Einführung von Solvency II gut vorbereitet“, erklärte Finanz­vorstand Jörg Schneider, als Ende November 2015 die Genehmigung der Bafin bei ihm eintraf. Zugleich räumte er aber ein, dass die neuen Kapitalanforderungen im anhaltenden Niedrigzinsumfeld vor allem für Lebensversicherer eine große Herausforderung darstellen, auch für die seiner Gruppe. Dennoch will man im Hause der Munich­ Re auf die Übergangsregeln verzichten. „Nach verschiedenen Maßnahmen im Konzernverbund werden unsere Lebensver­sicherer voraussichtlich keine gesetzlichen Übergangserleichterungen beantragen.“ Der ökonomische Solvabilitätskoeffizient auf Basis des Solvency-­II-Standards liegt laut Unternehmensangaben bei 277 Prozent­ zum 31. Dezember 2014 und bei circa 260 Prozent zum 30. September 2015. Gegenüber der nach den bisherigen Methoden errechneten Solvenzquote – zum 31. Dezember 2014 lag diese bei 242 Prozent – ergebe sich durch die Anwendung der neuen gesetzlichen Vorgaben sogar eine leichte Verbesserung. Ebenfalls gut kapitalisiert sieht sich der zweite Münchner Versicherungsriese. Zum 30. September 2015 lag die Kapitaldeckungsquote der Allianz bei 200 Prozent – vorausgesetzt, die europäischen Regeln zur Äquivalenz von Drittstaaten werden wie erwartet verabschiedet, teilte der Konzern mit.

Mit gewissem Misstrauen blickt die europäische Versicherungsaufsicht Eiopa auf die internen Modelle. Das ist zumindest ein Eindruck, der sich beim Besuch der Eiopa-Konferenz in Frankfurt Mitte November vergangenen Jahres aufdrängte. In seiner Rede machte Bernardino damals deutlich, dass er vermeiden will, dass interne Modelle zu einem „capital optimization tool“ werden. Interne Modelle seien besonders anfällig für inkonsistente Ansätze. Und das stehe einem der drei strategischen Prioritäten im Wirken der Eiopa in den kommenden Jahren entgegen. Neben der Bewahrung der Finanzstabilität und der Stärkung des Konsumentenschutzes haben sich Bernardino und seine Kollegen die Konvergenz der Aufsicht auf die Fahnen geschrieben. Die unterschiedlichen Aufsichtskulturen und Praktiken in den einzelnen Mitgliedsstaaten sollen in den kommenden fünf Jahren zu einer europäischen, risikobasierten Aufsichtskultur zusammenwachsen. Die Erreichung dieses Ziels sieht Bernardino offenbar durch die internen Modelle gefährdet. Für ihn ist dies ein Bereich, in dem materielle Unterschiede große Auswirkung auf das „level playing field“ haben können. Deshalb will er dem fortlaufenden Monitoring der internen Modelle große Aufmerksamkeit schenken. „Wir werden uns auf die Entwicklung und das Testen von soliden und angemessenen Indikatoren und Benchmarking für interne Modelle fokussieren.“ Was das in der Praxis genau heißt und welche Konsequenzen dies hat, bleibt abzuwarten.

Von Kerstin Bendix

portfolio institutionell, Ausgabe 1/2016

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