Der Traum vom Eigenkapital
Der Renditeeinbruch bei deutschen Staatsanleihen geht mit einem kaum thematisierten Nebeneffekt einher. Er treibt die Pensionsverpflichtungen deutscher Firmen in brenzlige Höhen. Dadurch rinnt ihnen das Eigenkapital durch die Finger. Mit drastischen Folgen für Wachstum und Betriebsrenten.
Eine aktuelle Untersuchung der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft EY beschäftigt sich mit dem Markt für Firmenübernahmen. Die Materie ist höchst interessant und entsprechend kurzweilig. Eine zentrale Erkenntnis, die sich aus der Studie entnehmen lässt, besagt beispielsweise, dass der Appetit der Firmen auf Übernahmen wächst. Und zwar weltweit. Laut dem „Capital Confidence Barometer“ wollen 56 Prozent der befragten Firmen in den nächsten zwölf Monaten zukaufen – so viele wie seit fünf Jahren nicht.
Auch in Deutschland haben mit 51 Prozent mehr als die Hälfte der Unternehmen entsprechende Pläne. Basis der Studie ist eine Umfrage unter 1.600 Managern in Großunternehmen weltweit, davon 101 in der Bundesrepublik. Nach Einschätzung von EY kommen deutsche Firmen derzeit leicht an Kredite und haben in vielen Fällen auch selbst hohe Geldreserven, um M&A-Transaktionen zu bewerkstelligen. „Mit Zukäufen in strategisch wichtigen Märkten wie den USA oder China oder in innovativen Bereichen wie IT oder Telekommunikation können sie ihr Wachstum befeuern und sich damit im weltweiten Wettbewerb einen Vorteil verschaffen“, fasst EY die aktuelle Situation aus Sicht der Großunternehmen zusammen.
Auf den ersten Blick sorgt das Niedrigrenditeumfeld also für gute Stimmung unter all jenen, die eine fremdfinanzierte Übernahme anstreben. Und die Unternehmen kommen nach Angaben des Münchener Ifo-Instituts derzeit günstig an Fremdkapital, wie sich an der sogenannten Kredithürde für die gewerbliche Wirtschaft in Deutschland ablesen lässt. Die Kennzahl ist im Mai auf 15,7 Prozent gefallen – nach 16,0 Prozent im Vormonat. Dies ist ein historischer Tiefstand. Das ohnehin extrem günstige Finanzierungsumfeld für die Unternehmen verbessert sich damit nach Einschätzung des Ifo-Instituts noch einmal. Wer die Zahlen richtig interpretieren möchte, muss einen Blick ins Detail werfen: Bei den Großfirmen fiel der Anteil der Firmen, die von Problemen bei der Kreditvergabe berichten, auf unter 8,8 Prozent. Bei den kleinen Unternehmen sank der Anteil derweil unter die 20 Prozent-Prozent-Marke. Nur bei den mittelgroßen Firmen stieg die Kredithürde leicht, sie liegt mit 12,1 Prozent aber weiterhin auf sehr niedrigem Niveau. Je nach Unternehmensgröße bestehen also nicht unerhebliche Unterschiede.
Schuldenanstieg durch Zinsverfall
Daran anknüpfend muss man konstatieren, dass die extrem niedrigen Zinsen gerade deutschen Mittelständlern im Bereich der Pensionsverpflichtungen schwer zu schaffen machen. Bilanzielle Effekte sorgen dafür, dass viele der hiesigen Gesellschaften ihren Hunger nach Übernahmen eben nicht stillen können. Wie die Effekte miteinander zusammenhängen, dazu hat sich Niclas Bamberg, Bereichsleiter Personalmanagement in der TÜV Nord Group, intensiv Gedanken gemacht. Der Konzern ist neben TÜV Süd und TÜV Rheinland eines der drei großen im Wettbewerb stehenden TÜV-Unternehmen in Deutschland. Die TÜV Nord Group erwirtschaftet gut eine Milliarde Euro Umsatz pro Jahr.
Bamberg beschäftigt sich auf allen Ebenen intensiv mit der Materie. Wenn der Rechtsanwalt und Betriebswirt nicht gerade beim TÜV Nord den Bereich der Personalabrechnung der aktiven Mitarbeiter und Rentner steuert oder sich um Fragen der betrieblichen Altersversorgung im Treasury und der Bilanzierung kümmert, tritt er als Referent bei Konferenzen auf; zuletzt stand er auf der Handelsblatt-Tagung zur betrieblichen Altersversorgung auf dem Podium. Im Gespräch mit portfolio institutionell beschreibt Bamberg die Auswirkungen sinkender Rechnungszinsen auf die Pensionsrückstellungen von Unternehmen. Sie seien in der Handelsbilanz, anders als in der Steuerbilanz, deutlich angestiegen. Denn der Diskontierungssatz richtet sich im Handelsrecht nach Referenzzinssätzen der Bundesbank, die sich wiederum am Kursniveau von Bundesanleihen orientieren und einen Durchschnitt von sieben Jahren zugrundelegen. Ein Problem, das jetzt aber bestehe, sei der Unterschied zur Steuerbilanz mit seinem nach wie vor hohen und gesetzlich festgeschriebenen Zins von sechs Prozent. „Durch den sinkenden Diskontierungszins vermindert sich das Eigenkapital in der Handelsbilanz. In der Steuerbilanz ergeben sich indessen keine Auswirkungen. Wenn man beide Bilanzen zusammen betrachtet, vermindert sich der Liquiditätseffekt, den man durch die Bildung von Pensionsrückstellungen erzielen müsste“, erklärt der Experte diese für viele Unternehmen wachsende Problematik.
Doch damit nicht genug. Mit jedem Prozentpunkt, den der Diskontierungszins in der Handelsbilanz sinkt, nehmen die Zuführungen zu den Rückstellungen zu. Einzelne Gutachten sagen heute voraus, dass der Diskontierungszins im Jahr 2020 bis auf 1,6 Prozent abschmilzt und im Gegenzug die Barwerte der Pensionsverpflichtungen drastisch steigen. Rein theoretisch ist es nach Einschätzung Bambergs sogar möglich, dass es einen negativen Diskontierungszins für Pensionsverpflichtungen gibt. Das bedeutet, dass die Firmen in der Gegenwart höhere Rückstellungen bilden müssen als zum Zeitpunkt der Zahlung im Alter erforderlich sind. Um die Problematik zu entschärfen, könnte der Gesetzgeber beispielsweise auf Steuereinnahmen verzichten, indem er den Rechnungszins für die Steuerbilanz senkt. Damit rechnet Bamberg jedoch nicht.
Es hakt wegen der Bilanztechnik
Die Bildung von Rückstellungen wirkt sich handelsrechtlich als Aufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung aus, sie mindert also das Betriebsergebnis und schmälert unter Umständen sogar das Eigenkapital. Dadurch entfaltet sich für die betreffenden Unternehmen eine negative Wirkung, die zum vollständigen Verlust des Eigenkapitals führen kann. Ihnen droht die Überschuldung bei ansonsten guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Firmen, die nach dem Handelsgesetzbuch bilanzieren, haben demnach zinsbedingt ein schlechteres Betriebsergebnis. Bei Unternehmen, die sich nach den internationalen IFRS-Bilanzstandards richten, ist das anders. Doch auch sie sind betroffen. Bei ihnen wird die Bildung einer Rückstellung zwar nicht in der Erfolgsrechnung berücksichtigt, sondern direkt mit dem Eigenkapital verrechnet. Mit gleichem Resultat.
Quintessenz der aktuellen Gemengelage: Der Rechnungszins verfällt, die Pensionsverpflichtungen steigen, und die Bilanzen geben ein schlechtes Bild ab bei ansonsten positiven Rahmenbedingungen. „Vielen Unternehmen mit dieser Problematik geht es wirtschaftlich gesehen sehr gut, sie erwirtschaften Rekordgewinne und wachsen. Gleichzeitig haben sie immer schwächere Eigenkapitalquoten und eine Bilanz, die der Überschuldung näher kommt“, warnt Bamberg. Danach befragt, wie sich kreditgebende Banken in einer solchen Situation verhalten, entgegnet der Pensionsexperte: „Die Banken werden natürlich nervös, da die Kreditverträge normalerweise auf Eigenkapitalquoten abstellen oder Eigenkapitalrenditen.“ Beide Kennziffern erodieren, wenn der Diskontierungszins sinkt und die Pensionsverpflichtungen steigen. Im schlimmsten Fall vergeben die Banken einem solchen Unternehmen keine Darlehen mehr oder nur zu teuren Konditionen.
Unternehmen, die ihre geschäftlichen Aktivitäten durch Übernahmen ausbauen wollen, können – wenn es hart auf hart kommt – das gängige Instrument des Konsortialkredits nicht mehr nutzen. Das beschneidet sie natürlich in ihrem Bestreben, Übernahmen durchzuführen. Das sei dann eine Nebenwirkung der niedrigen Zinsen, so Bamberg. „Wir haben in Deutschland einen relativ saturierten Markt. Das heißt, Unternehmen können nicht beliebig wachsen, indem sie Personal einstellen“, sagt er. Die Gesellschaften können im Grunde genommen bei einem sehr gereiften Markt eigentlich nur noch Marktanteile gewinnen, indem Sie Wettbewerber aufkaufen. Das heißt, der Markt konsolidiert sich in größere Player. „Das Ganze kann aber nur über M & A stattfinden. Dann müssen Sie immer mit einem Kreditvertrag auch gegenfinanzieren, was sich erst über Jahre auszahlen kann. Diese Kreditfinanzierung wird aber nicht stattfinden können, so dass sich der Markt nicht wie bisher konsolidieren kann.“ Der TÜV Nord genießt ein besonderes Vertrauen der Banken. Schließlich verfügt er über die Bonität „bundesbankfähig“ der Deutschen Bundesbank. Sein traditionsreiches Unternehmen bezeichnet Bamberg als äußerst stabil. Dennoch blickt man auch dort mit Sorge auf die Zinsentwicklung und teilt damit die Auffassung der Industrie zu dieser Entwicklung auf den Märkten.
Vor dem Hintergrund der Zinsentwicklung gehen immer mehr Controller dazu über, Prognoseberechnungen anzustellen, um das Absinken des Eigenkapitals im Auge zu behalten. Dadurch entstehen zusätzliche Kosten. Stellt sich heraus, dass die Bilanz überschuldet ist, muss das betreffende Unternehmen nach der neuen Insolvenzordnung beim Wirtschaftsprüfer eine sogenannte Going-concern-Analyse nachweisen und zeigen, dass es liquide ist, so Bamberg. „Meines Erachtens haben die betroffenen Unternehmen genügend Cash“, sagt er. Diese Unternehmen erscheinen bilanziell aber in einem schlechten Licht. „Wenn ich mir vorstelle, wie viele Mittelständler mit alten Versorgungswerken keine Möglichkeiten haben, ein Gegengewicht zu den steigenden Pensionsrückstellungen zu schaffen, ist das ein echtes Problem.“ Danach befragt, welche Auswirkungen sich vor diesem Hintergrund für Rentner und Anwärter von Pensionsleistungen ergeben könnten, entgegnet der Fachmann: „Wenn Unternehmen stark unter Druck geraten, könnten sie versuchen, bei Rentnern die Leistungen zu kürzen oder auf Rentenanpassungen in der Zukunft zu verzichten. Einen anderen Ausweg könnten Unternehmen darin sehen, die Anwartschaften künftiger Rentner ganz zu streichen.“
Anwartschaften wegzunehmen ist nach Einschätzung Bambergs rechtlich gesehen sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich. „Wenn sie eingreifen möchten auf dieser Stufe, wäre das möglich aufgrund von sogenannten sachlich proportionalen Gründen, etwa einer Schieflage im Unternehmen. Diese Einschätzung muss gerichtsfest sein.“ Die Zinsentwicklung sorgt nach seinen Beobachtungen letztlich dafür, dass vom Arbeitgeber finanzierte Rentenzusagen seltener ausgesprochen werden.
Aktivseite der Bilanz
Die niedrigen Zinsen verursachen auch bei den Pension Assets Verzerrungen. Viele deutsche Unternehmen betreiben nach Einschätzung Bambergs eine Anlage über sogenannte Rückdeckungsversicherungen. Das heißt, sie kaufen Lebensversicherungen, die das Leben eines Mitarbeiters absichern und dem Unternehmen eine Rentenerstattung auszahlen, wenn es zur Rentenzahlung kommt. Betriebe, die das gut machen, bekommen einen großen Teil des Geldes erstattet, das sie an den Mitarbeiter zahlen, so Bamberg. „Die Versicherung beinhaltet zudem das Langlebigkeitsrisiko, wie es im Fachjargon heißt. Wenn der Mitarbeiter länger lebt als der Durchschnitt der Bevölkerung, muss der Betrieb die höheren Rentenzahlungen leisten. Dies würde auch der Versicherer tragen.“
TÜV Nord mit seinen zurzeit etwas mehr als 4.000 Rentnern und rund 3.900 Anwärtern verfolgt genau dieses Konzept. Interessanterweise wird gerade Prüfingenieuren, wie sie beim TÜV arbeiten, eine besonders hohe Lebenserwartung nachgesagt. Aber: Letztendlich sind die Lebensversicherer immer schwächer in ihrer Leistung, meint Bamberg mit Blick auf die Kapitalanlagen der Assekuranz. Wenn man also die Asset-Klasse „Versicherung“ im Portfolio hat, wirkt sich diese Niedrigzinsphase entsprechend auch auf die Rendite aus, so der TÜV-Nord-Mann. Neben den skizzierten Rückdeckungsversicherungen befinden sich indessen kaum weitere Assets im Kapitalanlageportfolio von TÜV Nord. Man investiere ins eigene Geschäft, um organisch zu wachsen.
Unternehmen, die besonders stark vom Niedrigzins durch steigende Pensionsverpflichtungen betroffen sind, müssen nach Einschätzung Bambergs jetzt handeln. Er nennt drei Möglichkeiten, um die Ungleichgewichte in der Bilanz aufzuheben: Die Firmen könnten das Eigenkapital stärken. Alternativ könnten sie einen Eingriff in die Altersversorgung vornehmen, also die Verbindlichkeiten kürzen. Ein weiterer Ansatz, die Aktiva indirekt zu erhöhen: mehr Rendite erzielen bei der Kapitalanlage oder auf Unternehmensebene.
Aba fordert Anpassung des Bilanzrechts
Die Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung (Aba) hat sich zuletzt ebenfalls mit der Thematik auseinandergesetzt und ein Positionspapier veröffentlicht. „Die anhaltende Niedrigzinsphase erfordert eine umgehende Anpassung des Bilanzrechts“, erklärte Stefan Oecking, Mitglied des Aba-Vorstandes und Leiter der Aba-Fachvereinigung Mathematischer Sachverständiger, in Berlin anlässlich der Vorstellung eines entsprechenden Positionspapiers. In einer Mitteilung des deutschen Fachverbands für alle Fragen der betrieblichen Altersversorgung in der Privatwirtschaft und dem Öffentlichen Dienst heißt es: „Aufgrund der anhaltenden Niedrigzinsphase und des aktuellen Bilanzrechts werden Unternehmen mit rückstellungsfinanzierten Direktzusagen bis Ende 2017 bilanzielle Zusatzbelastungen von jährlich 35 bis 45 Milliarden Euro tragen müssen. Das ist weder akzeptabel noch erforderlich“, so Oecking. Sei bei den Bewertungen der Pensionsverpflichtungen von rund 40.000 Unternehmen zum 31. Dezember 2014 noch ein Zinssatz von 4,5 Prozent angesetzt worden, so werde sich dieser bis Ende 2017 auf 2,7 Prozent vermindern. Die Folge wären hohe, steuerlich nicht wirksame Zuführungen zu den Pensionsrückstellungen.
Dieser Mehraufwand belaste die Unternehmen sehr, vermindere Eigenkapital und Kreditwürdigkeit und bringe den Arbeitnehmern nicht mehr Sicherheit für ihre Betriebsrenten. Damit haut Oecking in die gleiche Kerbe wie Bamberg. Betroffen seien vor allem die Unternehmen, die innenfinanzierte Pensionszusagen nach wie vor mit hohen Garantien versehen haben. Diese Zusatzbelastung der Arbeitgeber aus der betrieblichen Altersversorgung werde die Bereitschaft, zur Alterssicherung der Arbeitnehmer beizutragen und hierbei auch Garantien auszusprechen, nachhaltig schädigen. Auch in diesem Punkt stimmt er mit dem TÜV-Nord-Mann überein. „Angesichts der aktuellen sozialpolitisch getriebenen Diskussion der Alterssicherung insgesamt ist diese Belastung der Arbeitgeber kontraproduktiv und sollte auf jeden Fall vermieden werden“, erläuterte Oecking weiter.
Das Aba-Vorstandsmitglied zeigte drei mögliche gesetzgeberische Maßnahmen auf, um die Situation zu entschärfen: die Ausweitung der Zinsdurchschnittsbildung von sieben auf 15 Jahre, die Schaffung der Möglichkeit, die Effekte aus einer über zum Beispiel 0,25 Prozentpunkte hinausgehenden Zinsminderung gleichfalls auf 15 Jahre zu verteilen, sowie den Übergang vom Einheitszins zum Staffelzins. „Wichtig ist, dass der Gesetzgeber schnell handelt. Es wäre wünschenswert, wenn Unternehmen mit Bilanztermin 30. September schon von entsprechenden Anpassungen profitieren könnten“, betonte Oecking abschließend.
Von Tobias Bürger
portfolio institutionell, Ausgabe 06/2015
Autoren: Tobias Bürger In Verbindung stehende Artikel:
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