Dekarbonisierung per Zertifikat: Abkürzung oder Sackgasse
Um ihre hochgesteckten Emissionsziele zu erreichen, suchen manche Anleger nach Möglichkeiten, um die Restemissionen an Treibhausgasen ihrer Portfolios auszugleichen. Eine Möglichkeit dazu bieten freiwillige Klimaschutzzertifikate, die inzwischen auch in ersten Publikumsfonds zum Einsatz kommen. Aber als Alternative könnte sich auch der dauerhafte Entzug von EU-Emissionsrechten zunehmend etablieren.
Der Mikrokosmos des Münchner Oktoberfests spiegelt in vielerlei Hinsicht die Welt im Großen wider. Etwa beim inflationären Anstieg des Bierpreises, der heuer fast zehn Prozent höher lag als im Vorjahr. Und auch in puncto Nachhaltigkeit liegen viele Wiesnwirte im Trend mit ihren klimaneutralen Festzelten. Hinter der Netto-Null-Rechnung stecken in aller Regel sogenannte Klimaschutzzertifikate. Sie sollen den nach allen anderen Anstrengungen zur CO₂-Vermeidung und -Reduktion verbleibenden Kohlenstoff-Fußabdruck durch die Finanzierung externer Nachhaltigkeitsprojekte tilgen.
Reiseveranstalter und Dienstleister verwenden die Zertifikate bereits seit langem und in den vergangenen Jahren fanden sie auch zunehmende Verbreitung bei Versicherungsunternehmen, Banken, Stiftungen und anderen institutionellen Anlegern. Allerdings kompensieren sie in der Regel nur die Restemissionen ihres operativen Geschäfts, nicht aber die Emissionen aufgrund der Kapitalanlage.
Das Prinzip der Klimaschutzzertifikate: Spezialisierte Projektfirmen lassen die CO₂-Einsparung ihrer Nachhaltigkeitsprojekte von externen Prüfern zertifizieren, verpacken diese in Kompensationszertifikate und veräußern sie direkt oder über Partner an Firmen, die ihren Ausstoß an Treibhausgasen kompensieren wollen. Bei den Zertifizierungsstandards haben sich unter anderem Verra, Gold Standard und Plan Vivo etabliert. Um gemeinsame Standards und Best Practices in der Branche bemüht sich die International Carbon Reduction and Offset Alliance (ICROA).
Die meisten Großanleger wie Versicherer und Finanzkonzerne trennen bei der Kompensation klar zwischen operativem Geschäft und Kapitalanlage. Viele von ihnen kompensieren die Scope-1- und Scope-2-Emissionen ihrer operativen Geschäftstätigkeit über Klimaschutzzertifikate. Zum Ausgleich der Emissionen infolge der unter Scope 3 fallenden Kapitalanlage setzen aber nur sehr wenige dieser meist großen Anleger auf Zertifikate.
Bei Kapitalanlagen sei es „zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht, sich Gedanken über einen möglichen Ausgleich von verbleibenden CO₂-Emissionen zu machen“, sagt etwa Stephan Bongwald, Nachhaltigkeitsbeauftragter bei der Barmenia. Auch der Versicherungskonzern gleicht die Emissionen des normalen Geschäfts aus, die der Kapitalanlagen aber nicht. Die Barmenia hat sich bei ihren Kapitalanlagen Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 als Ziel gesetzt. Der Konzern setzt im Geschäftsbetrieb und auch bei Kapitalanlagen die Vermeidung von CO₂ in den Fokus und hat auch bei der Klimabilanz des Portfolios bereits weitreichende Fortschritte erzielt.
Eine potenzielle Kompensation der anlagebedingten Emissionen käme aber erst subsidiär nach allen anderen Anstrengungen zum Einsatz. Ein industrieweites Problem bei den Portfolioemissionen ist zudem die dürftige Datenlage: „Derzeit sind CO₂-Daten von bis zu 35 Prozent der Kapitalanlagen verfügbar“, erklärt Bongwald. Intern wie auch bei externen Datenlieferanten werde daher intensiv daran gearbeitet, die Menge und Qualität der Daten zu erhöhen.
Investorengruppe zeigt sich skeptisch
Auch internationale Investorengruppen wie die Net-Zero Asset Owner Alliance (AOA) unter dem Dach der Vereinten Nationen sind bei der Kompensation zurückhaltend. So hat die AOA ihren 44 Mitgliedern – darunter einige der weltweit größten Asset Owner – nahegelegt, Klimaschutzzertifikate vorerst nicht in der Nachhaltigkeitsberichterstattung der Kapitalanlagen anzurechnen. Zugleich betont die Gruppe aber die wichtige Rolle der Zertifikate in der Transition. Ihren Mitgliedern empfiehlt die AOA, gemäß der sogenannten Oxford Principles vor allem Kohlenstoffabbauzertifikate mit langlebiger Speicherung einzusetzen und die Kompensationsstrategie regelmäßig an neueste Erkenntnisse und „Best-Practice“ Ansätze anzupassen. Einigkeit besteht zudem, dass Vermeidung und Reduktion von Emissionen an erster Stelle stehen sollten.
Doch CO₂-Abbau und -Speicherung sind noch im Entstehen. Und an den überwiegend genutzten Kompensations-Zertifikaten nahm die Kritik zu: Viele der so finanzierten Nachhaltigkeitsprojekte werden in Schwellenländern durchgeführt, wo der Effekt bei Aufforstung oder Einführung neuer Techniken oft einfacher, schneller und auch günstiger zu erzielen ist. Jedoch lässt sich die Zusätzlichkeit etwa beim Schutz von bedrohtem Regenwald oft schwer beurteilen.
Auch die Berechnung der effektiven Einsparung gilt als problematisch, potenzielle Doppelzählungen etwa durch Staaten und Firmen sind vor dem Hintergrund des Pariser Klimaabkommens ein weiteres Problem. Viele Anwender der Kompensation reagierten auf die Kritik und konzentrieren sich auf besonders selektiv ausgewählte und langfristige Infrastruktur- und Technologieprojekte etwa zur Versorgung mit Trinkwasser oder der Biogaserzeugung.
Doch auch solche Projekte sind noch nicht in ausreichendem Maße verfügbar. Karim Chatti, institutioneller Kundenbetreuer beim Investmentmanager Triodos IM, glaubt, dass nicht genügend hochwertige Zertifikate zur Verfügung stehen, um alle durch die Kapitalanlage entstandenen Emissionen zu kompensieren. Auch der auf nachhaltige Anlagelösungen spezialisierte Vermögensverwalter Triodos selbst kompensiert zwar die Aktivitäten des eigenen Geschäfts. Für die Anlage setzt man die Zertifikate aber auch hier nicht ein und legt den Fokus stattdessen auf den aktiven Beitrag der Portfolios zum Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft.
Zum Einsatz kommen die Klimaschutz-Zertifikate bislang vereinzelt in Publikumsfonds. So lancierte die britische Fondsgesellschaft Schroders vor wenigen Monaten für ihren Artikel-8-Fonds Schroder (SISF) Global Climate Leaders zusätzliche dekarbonisierte Anteilsklassen auf Basis ausgewählter Zertifikate. Andrew Howard, globaler Leiter für nachhaltige Anlagen bei Schroders, betont die Bedeutung der sorgfältigen Projektauswahl. Die Umsetzung der Oxford Principles sieht er als weiteren Schlüssel zur Glaubwürdigkeit und Integrität. Allerdings muss sich der freiwillige Kompensationsmarkt noch weiterentwickeln und auch verstärkt die nach den Oxford-Prinzipien geforderten sogenannten Carbon-Removals etwa über Speicherung von CO₂ bereitstellen.
Emissionsrechte: Emissionen dauerhaft entziehen
Ganz andere Möglichkeiten zur Netto-Tilgung der CO₂-Emissionen bieten die European Allowances (EUA). Die EUA werden seit 2005 als Klimaschutzinstrument von der EU und den EU-Staaten eingesetzt. Besonders energie- und emissionsintensive Branchen müssen für ihre Emissionen an CO₂ und anderen Treibhausgasen entsprechende Emissionsrechte einsetzen. Bereits heute werden so mehr als die Hälfte aller EU-Emissionen reguliert, in den nächsten Jahren sollen weitere Branchen dazu kommen, 2024 etwa die Schifffahrt. Durch die jährliche Verknappung der emittierten Rechte soll ein langfristiger Reduktionspfad erreicht werden. Da die Zertifikate knapper werden, könnten die Preise langfristig steigen.
Das Prinzip des EUA-basierten Ansatzes: EUAs sollen dauerhaft vom Markt genommen werden und damit nicht mehr für die Emission zur Verfügung stehen. Einen solchen Ansatz entwickelte CAP2. Der Emissionsrechtespezialist berechnet den CO₂-Fußabdruck eines Portfolios und erwirbt im Auftrag des Kunden eine entsprechende Anzahl an EUAs. Die Zertifikate werden von einer deutschen Klimaschutzstiftung dauerhaft verwahrt und so dem Markt entzogen. CAP2-Gründer Christian Jasperneite ist zu dem Ansatz im Austausch mit Regulierungsbehörden und auch der Net-Zero Asset Owner Alliance. Er sagt: „Der Ansatz ist effizient, transparent und skalierbar.“ Auch institutionelle Asset Owner interessieren sich für den Ansatz: „Wir sind derzeit in konkreten Gesprächen mit mehreren Versicherungen und Pensionskassen.“
Zum Einsatz kommt das Konzept in der Praxis in insgesamt elf Fonds des Fondsanbieters Acatis. Bei diesen Fonds erwirbt Acatis die dem CO₂-Profil entsprechende Anzahl an EUAs und überträgt diese schrittweise an die Klimastiftung Climate Concept Foundation. Durch das Konzept entzieht Acatis dem Markt nach eigenen Angaben jährlich rund 30.000 EUAs – entspricht etwa 100.000 Flugtickets von Frankfurt nach Mallorca pro Jahr. Die in den Fonds verbleibenden EUAs möchte das Fondshaus später bei höheren Preisen wieder am Markt veräußern – das soll im Idealfall die Kosten zumindest ausgleichen oder sogar zusätzlichen Ertrag bringen.
Auf den Entzug von Emissionsrechten setzt auch HAN-ETF mit einem Indexprodukt, das mit physischen EUAs hinterlegt ist und Anlegern die Investition in physische EUAs und eine potenzielle Nachhaltigkeitswirkung ermöglicht. Denn auch hier gilt: EUAs, die innerhalb der ETC-Struktur gehalten werden, können nicht von Unternehmen verwendet werden. „Das gewährleistet eine direkte und positive Auswirkung auf die Umwelt“, heißt es bei HAN-ETF.
Autoren: Jochen HägeleSchlagworte: CO₂-Fußabdruck | Dekarbonisierung | Klimaneutralität | Klimapfade
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