Strategien
20. Juli 2022

Das Ausschlussprinzip – nur noch eingeschränkt tragfähig für Sustainable Finance?

Sie zählen zur „Urtinktur“ ­nachhaltiger Geldanlagen und ohne sie kommt bis heute fast kein ESG-Fonds oder -Mandat aus: Ausschlusskriterien. Ein Gastbeitrag von Univ.-Prof. Dr. (a. D.) Henry Schäfer, Universität Stuttgart.

Laut dem Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG) weisen in Deutschland von „Sünden- oder Lasteraktien“ gereinigte Fonds und Mandate am ­Gesamtvolumen nachhaltiger Geldanlagen einen Anteil von gut 90 Prozent auf. Am häufigsten werden Ausschlüsse aufgrund von Menschenrechtsverletzungen sowie Korruption und Bestechung vorgenommen. Als dritthäufigsten Grund nennt die FNG-Statistik den Kohlesektor.

Auf Platz acht und neun der Ausschluss-Top-Ten in Deutschland finden sich Waffen sowie Kernenergie. Dieses FNG-Statistikbild lässt sich ziemlich unverändert über Jahre ­zurückverfolgen, auch wenn sein Gegenpol in der nachhaltigen ­Anlagepraxis, das bewusste Investieren in kontroverse Aktien zwecks Ausübung von Engagement, zugelegt hat – Exit, Voice & Loyalty, spannungsgeladene Handlungsalternativen, die der Ökonom Albert O. Hirschman in den 1970er Jahren als Grundprinzipien wirtschaftlichen Handelns formuliert hat und dessen Konzept sich in der Praxis nachhaltiger Geldanlage prägnant wiederfindet.

Ausschlüsse haben in der Kapitalanlage Tradition. Sie werden ­ursächlich auf die Praxis amerikanischer Methodisten und Quäker zurückgeführt, die so Konflikte mit ethisch-konfessionellen Grundhaltungen vermeiden wollten. Dieser gesinnungsethische Ansatz ist auch heute noch für viele an Nachhaltigkeit ausgerichtete ­Investoren maßgebend. Seine eher wirkungsethische, ja politische Instrumentalisierung erhielt das Ausschlussprinzip in den 1960er Jahren, indem man Kapital von solchen Unternehmen abzog, die mit ihren Geschäften in den Vietnam-Krieg oder in das Apartheid-System Südafrikas verwickelt waren. In jüngster Zeit beherrscht das Ausschlussprinzip unter dem Motto „No Fossils“ erneut die Agenda von Investoren, teils aufgrund internationaler Kampagnen zur Reduktion des Treibhaus­gasausstoßes und zum Stopp des ­Klimawandels, teils aber auch, weil die von der EU verabschiedete grüne Taxonomie und die sie begleitenden „Do No Harm ­Principles“ indirekt Ausschlusswirkungen in Portfolios erzeugen (sollen). Doch obwohl solche Negative Screens in Portfolios mit Nachhaltigkeitsanspruch ihren Platz haben, sollte es nicht darüber hinweg­täuschen, dass sie von jeher eine hohe Ambivalenz begleitet, die heutzutage offenkundiger denn je zu Tage tritt.

Die bekanntesten Vorbehalte gegenüber Ausschlusskriterien dürften Befürchtungen vor adversen Effekten auf die finanzielle Per­formance sein. So belegen Studien, dass ­Investments in Hersteller von Tabakwaren, Rüstungsgüter et cetera eine Outperformance ­erzielen können. Wie Renditeeinbußen zeugen, hat dies auch praktische Relevanz. So gab der Norwegische Pensionsfonds an, 2010 beim Ausstieg aus Tabak in den folgenden fünf Jahren 1,94 Milliarden US-Dollar und 2017 beim Divestment aus der Rüstungs­branche 1,4 Milliarden US-Dollar kurzfristig an Erträgen eingebüßt zu ­haben. Calpers oder Axa verzeichnen ebenfalls Renditeeinbußen durch Ausschlüsse. Neben dem Nichtausschöpfen von Ertragschancen sorgen Ausschlüsse je nach Anzahl und Umfang für eine Minderung der Diversifikationskraft eines (nachhaltigen) ­Portfolios und machen es anfälliger gegenüber Risiken.

Jenseits portfoliospezifischer Fragen fällt auf, dass die Praxis mit Ausschlusskriterien in Anlagerichtlinien sehr differenziert zu ­sehen ist. Der auf den ersten Blick und gerade für nicht-professionelle Anleger so offensichtliche „Charme“ von Ausschlusskriterien als konturenstarke Träger ethischer Wunschvorstellungen offenbart bei näherem Hinsehen ein oft diffuses Bild. Am besten wird dies in der Praxis an der fast durchgängigen Verwendung von Schwellenwerten deutlich. Geradezu klassisch, weil von der ­ältesten ethischen Investorengruppe, den kirchlichen ­Einrichtungen, ­praktiziert, fällt auf, dass man beispielsweise Hersteller von ­Rüstungsgütern oder Alkoholika oft erst dann ­ausschließt, wenn ­bestimmte Umsatzgrenzen durch das als ­kontrovers ­erachtete ­Geschäft überschritten werden. Die Grenzziehungen schwanken oft zwischen fünf und zehn Prozent. Auch ist es ­ein Unterschied, ob zum Beispiel die gesamte Wertschöpfungskette ­eines „Bads“ ­betroffen ist oder nur Teile davon wie Produktion oder Vertrieb. Auch bei der Art der „Bads“ wie bei Rüstungsgütern wird oftmals beim Ausschluss unterschieden, ob es sich etwa um Streubomben oder konventionelle Waffen handelt – auch wenn beides zu Tod und unsäglichem menschlichem Leid führen kann. Einer der Hauptgründe für Schwellenwerte ist die Dual-Use-Problematik, das heißt Produkte und Dienstleistungen können sowohl für zivile als auch militärische Zwecke eingesetzt werden. So würden sehr viele technologisch orientierte Unternehmen bei einem 100-Prozent-Ausschluss als nicht mehr investierbar gelten. Oft hat der ­Produzent aber auch gar keinen Einfluss auf die Verwendung ­seiner Produkte für militärische Zwecke. Die großen Toyota-Aufschriften auf den Heckklappen der Pick-ups von IS-Schergen im Irak oder aktuell der Ausbau von Halbleitern aus Waschmaschinen für Steuerungssysteme russischer Panzer im Ukraine-Krieg liefern dazu bizarres Anschauungsmaterial. Für weite Teile der Digitaltechnik aber auch für manch „grüne Technologie“, wie die ­netzunabhängige Energieversorgung militärischer Ausrüstungen mit Brennstoffzellen der SFC Energy AG, besteht diese Grauzone sogar in sehr hohem Maße. Um dies zu vermeiden, werden Ausschlüsse immer granularer und von Anlageausschüssen mehrfach hin und her gewälzt, was nach ­außen die Komplexität erhöht sowie die Vermittelbarkeit und Glaubwürdigkeit des nachhaltigen Anlage­ansatzes bei ­Endanlegern diffus erscheinen lassen kann.

Des Weiteren unterliegen Ausschlusskriterien einer Effizienz­problematik, vor allem im Vergleich mit anderen zielführenden ­Instrumenten zur Sicherung oder Herstellung von Nachhaltigkeit. So argumentiert eine aktuelle IWF-Studie, dass durch Ausschlüsse bewirkte Desinvestitionen bei fossilen Energien zu adversen Verteilungsergebnissen führen und daher wirtschaftspolitisch ­ineffizient sind. Laut den Autoren würde ein durch Ausschlusskriterien ­bewirkter Rückgang von Investitionen in die Energieträger zu ­einem Ölpreisanstieg auf 190 Dollar/Barrel und zu unerwünschten Verteilungseffekten führen. Welche Folgen aus solchen sozialen Disparitäten gesellschaftlich entstehen können, demonstrierte die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich 2018/2019 dramatisch.

Doch selbst realwirtschaftliche Desinvestitionen durch Kapital­rationierung aufgrund von Ausschlüssen sind zweischneidig. ­Illustriert werden kann dies an den adversen Entwicklungen bei No-Fossil-Ausschlüssen. So berichtete der „Economist“ Anfang ­Februar, dass die von den Ölmultis angekündigten Rückzüge aus dem Ölförder- und Raffineriegeschäft – unter anderem aufgrund des verstärkten Anlegerdrucks – zwar Fortschritte mache, die Desinvestitionen aber von Staatsfonds, staatlichen Unternehmen und Private-Equity-Fonds (PE-Fonds) aufgekauft werden. Die mit ­erheblichen Abschlägen günstig erwerbbaren Fossil Assets versprechen aufgrund der anhaltenden Nachfrage nach Öl und Erdgas ­aussichtsreiche Gewinne. Die Renditen der PE-Gesellschaften ­verführen mittlerweile auch Pensionsfonds, Stiftungen und andere Institutionelle, entgegen manchen vollmundig verkündeten Fossil-Divestments durch die Hintertür diesen Energien über PE-Fonds wieder einen Portfolioplatz zu ermöglichen. Diese Entwicklung mag auch illustrieren, was bisher als ungelöstes Problem von Ausschluss­kriterien gilt: der mangelnde Nachweis, Verhaltens­änderungen hin zu mehr Nachhaltigkeit zu erzeugen. Die dazu notwendige Kenntnis des Transmissionsmechanismus einer auf Ausschluss­kriterien basierten Anlage in die Kosten- und Nutzenfunktionen von Unternehmen und Haushalten ist ­rudimentär. Mangels besseren Wissens und belastbaren (wissenschaftlichen) Belegen spricht man daher oft nur nebulös von ­negativen Reputa­tionseffekten durch Divestments. Diese mangelnde Kenntnis steht aber noch im Missverhältnis zu den Hoffnungen re-allokierender Fähigkeiten von Ausschlusskriterien hin zu mehr Nachhaltigkeit.

Kommen wir zur aktuellsten Herausforderung für Ausschluss­kriterien: die ethische Fundierung. Bisweilen wird im Alltag der Bewältigung von Brüsseler Regulierungsfluten verdrängt, dass Nachhaltigkeit ein Diskursthema ist, dadurch dynamisch und mithin wechselnden Verständnissen unterworfen. Zwei ­einschneidende Ereignisse haben dies eindrucksvoll bewusst gemacht: das aktuelle Für und Wider von Kriegswaffenlieferungen zu Verteidigungs­zwecken an die Ukraine und der Beschluss der EU-Kommission, Kernkraft (neben Erdgas) als Übergangstechnologie für kompatibel mit der grünen Taxonomie zu erklären. Für viele Sustainable-­Finance-Proponenten haben diese Entwicklungen Schockwellen ausgelöst, da Grundfesten nachhaltiger Anlegerüberzeugungen ­­erschüttert wurden. Aber: Ist nicht eine vorbehaltlose, offene Selbstreflexion über Sinn und Zweck von Ausschlusskriterien ohnehin längst überfällig? Ausschlüsse erscheinen unter verantwortungs­ethischen Überlegungen eher zweifelhafter Natur. Hier taugen ­Engagement-Ansätze möglicherweise mehr und Impact-orientierte Investoren sollten eine Abkehr von Ausschlusskriterien erwägen. Unter gesinnungsethischen Überlegungen müssen sich nachhal­tige Investoren der Zeitenwende konstruktiv stellen und bisherige Positionen überdenken. Für etliche Stamm-Investoren wie solchen aus kirchlichen Kreisen dürfte damit ein Déjà-vu aus früheren ­Zeiten bevorstehen: intensive, nicht selten äußerst kontrovers ­geführte interne Diskussionen um ethische Anlagerichtlinien.

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