Das Deflationsgespenst geht um. Die EZB will es mit dem Kauf von Staatsanleihen vertreiben. Dabei könnte abwarten die bessere Taktik sein. Indessen lässt die Schweizer Notenbank dem Franken wieder freien Lauf.
Die Entwicklung der Verbraucherpreise bereitet der Europäischen Zentralbank mächtig Sorgen. Während die Inflation Anfang 2012 im Jahresvergleich noch um knapp drei Prozent zulegte, ging die Teuerungsrate im Euroraum seither sukzessive nach unten. Inzwischen sinken die Verbraucherpreise sogar leicht. Das böse „D-Wort“ geht um. Nach Einschätzung von Volkswirten beruht die Entwicklung zu einem großen Teil auf dem Verfall der Ölpreise. Öl ist nun einmal eine wichtige Determinante der Inflation, sagt beispielsweise Dr. Martin Hüfner, Chefvolkswirt bei Assenagon. Über zehn Prozent des Warenkorbs, mit dem die Preisentwicklung ermittelt wird, entfällt auf Haushaltsenergie und Kraftstoffe.
Und Sprit ist heute so billig wie seit Jahren nicht. Was den wirtschaftlich ins Abseits gedrängten Ölförderer Russland ebenso ärgert wie die defizitäre US-Fracking-Industrie, erfreut Großverbraucher und die Betreiber von Flug- oder Fahrzeugflotten. Die Lufthansa rechnet für dieses Jahr dank des Ölpreisrutsches mit 900 Millionen Euro niedrigeren Kerosinkosten. An der Tanke in Deutschland kostet Diesel inzwischen kaum mehr als einen Euro pro Liter. Und was dem Vielfahrer eine unerwartete Ersparnis einbringt, macht der EZB schwer zu schaffen. Dabei steht doch in den Lehrbüchern der VWL, dass alle großen Schwankungen des Preisniveaus in den vergangenen Jahren durch die Bewegungen des Ölpreises bedingt waren. Den Ölpreis kann die Zentralbank aber nicht beeinflussen. Sie muss ihn als gegeben hinnehmen.
EZB-Präsidenten Mario Draghi sieht das nicht ganz so eng. Ihm ist die Inflation für Italien, pardon für Europa, schlicht zu niedrig. Er wolle alles tun, um die Geldentwertung zu erhöhen. Nachdem der Europäische Gerichtshof den Weg frei gemacht hat, wird sich die Notenbank womöglich noch im Januar zum Kauf von Staatsanleihen entscheiden, um der Gefahr einer Deflation in der Eurozone entgegenzuwirken. Schade, dass Staatsanleihen nur in den Bankbilanzen und nicht auch im Warenkorb sind. Denn dann würde Draghi durch sein Staatsanleihen-Power-Shopping-Programm durch die weitere Preisinflation bei Staatsanleihen auch die allgemeine Inflation hochtreiben. Aber wenn Draghi die Deflation tatsächlich fürchtet, ein kleiner Tipp für die EZB: Ein großer Posten im Warenkorb sind Wohnungen.
Doch nicht so hastig, Mario! In seinem aktuellen „Wochenkommentar“ weist Assenagon-Chefvolkswirt Dr. Martin Hüfner darauf hin, dass die Inflationsrate zwangsläufig wieder steigen wird. Sollte sich der Ölpreis auf dem gegenwärtigen Niveau nämlich stabilisieren, dann wird der Abstand zum Vorjahr zwangsläufig von Monat zu Monat kleiner. Derzeit liegt er bei minus 50 Prozent. In einem Jahr wird er nur noch Null sein. „Damit wird die gesamtwirtschaftliche Inflationsrate immer weniger von sinkenden Ölpreisen gedrückt.“ Ohne dass zusätzlich etwas geschieht, wird die Geldentwertung also ansteigen. Derzeit liegt sie laut Hüfner bei minus 0,2 Prozent. In einem Jahr sollen es dann plus 0,7 Prozent sein. Es sei einfach ein mathematisch-statistischer Zusammenhang. Selbst wenn der Ölpreis weiter sinkt, ist Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Denn mit jeder Preissenkung beim schwarzen Gold wird es wahrscheinlicher, dass das Angebot zurückgeht. Gleichzeitig wird die Nachfrage zunehmen, weil sich ölsparende Maßnahmen nicht mehr rentieren. Hüfner rechnet jedenfalls damit, dass die stabilisierenden Effekte bei der Inflationsrate im Sommer beginnen und zum Jahresende voll wirksam werden.
Und jetzt kommt die Crux: Wenn die EZB heute nun über neue Staatsanleihenprogramme zur Bekämpfung der Deflation diskutiert, kann sie sich den Aufwand ersparen. Denn laut Hüfner wird die niedrige Geldentwertung auch ohne große geldpolitische Maßnahmen wieder steigen. „Sicher ist es zu spät, um die EZB noch von ihren Plänen abzubringen. Dazu hat die EZB die Märkte zu stark auf ihre Intention eingeschworen.“ Sein Rat: Die Notenbank sollte jetzt nicht noch weitere Erwartungen wecken, sondern vorsichtiger und bescheidener werden. Gleiches gilt wohl auch für Investoren, die auf eine ultralockere EZB-Politik setzen. Schweizer haben den Euro satt
Ölpreise hin, Draghi her. In der Schweiz hat man ganz andere Sorgen. Gestern hat die Schweizer Nationalbank die Quasi-Bindung der Fränkli an den Euro völlig überraschend aufgegeben. Ökonom Christian Schulz vom Bankhaus Berenberg sieht darin eine Kapitulation vor den geplanten gewaltigen Anleihenkäufen der EZB: „Die SNB ist nicht gewillt, der EZB Paroli zu bieten, um den Wechselkurs zu verteidigen.“ Damit hat die Schweiz ein Problem weniger und Euroland – noch – ein Problem mehr.
Schon 2012 haben wir dieProblematik in einem Schwarzen Schwan thematisiert. Dirk Aufderheide, Chefstratege für Währungen bei der Deutschen Asset & Wealth Management, sieht heute schwarz: „Die Frage ist nun, was das für die Realwirtschaft bedeutet. Der starke Ölpreisverfall zusammen mit der `flash crash`-Aufwertung des Franken birgt eine sehr große Deflationsgefahr. Die Schweizer Unternehmen verlieren stark an Wettbewerbsfähigkeit. Und in der Finanzindustrie könnte es einige Investoren auf dem falschen Fuß erwischt haben. Auf das Vertrauen in Zentralbanken eine Anlagestrategie aufzubauen, ist hochproblematisch. Und natürlich stellt sich nun die Frage: Wie vertrauenswürdig sind Zentralbanken?“
In diesem Sinne wünscht Ihnen die Redaktion von portfolio ein schönes Wochenende.
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