Schwarzer Schwan
15. Juni 2012

Nichts als Bahnhof

Lesen Sie in dieser Ausgabe des Schwarzen Schwan der Woche, warum der Chef der Linde AG augenscheinlich besser an einer Uni aufgehoben wäre als im Dax.

Deutsche Sprache – schwere Sprache! Dieser Ruf eilt unserem Vokabular voraus. So bringen wir Deutschen es tatsächlich fertig, Sätze zu konstruieren, die so lang sind, dass man am Ende nicht mehr weiß, wie der Satz überhaupt anfing. Ein Meister dieses Fachs war Nobelpreisträger Thomas Mann, bei dem ein Satz gerne auch mal über eine Buchseite gehen konnte. Mit dem Verstehen ausgeklügelter Satzkonstruktionen tun sich allerdings nicht nur Fremdsprachler schwer, sondern auch Zeitgenossen, die die deutsche Sprache mit der Muttermilch aufgesogen haben. Den Verfasser lassen sie derweil unheimlich gebildet wirken. Das erklärt wohl auch, wieso diese Satzbautechnik unter Wissenschaftlern weit verbreitet ist. 
Die Praktik, Texte mit gestelzten Wendungen, abstrakten Formulierungen und zahlreichen Nebensätzen unnötig zu verkomplizieren, ist aber auch in den Führungsetagen der Dax-Konzerne an der Tagungsordnung. So sind die Reden der Vorstandsvorsitzenden prall gefüllt mit unverständlichem Kauderwelsch. Das fand eine neue Studie der Universität Hohenheim heraus, für die alle Reden der 30 Dax-Vorstandsvorsitzenden auf den diesjährigen Jahreshauptversammlungen (HV) analysiert wurden. Für jeden Chef haben die Hohenheimer Wissenschaftler einen Verständlichkeitswert ermittelt. Die Skala reicht von 0 für „so verständlich wie eine Doktorarbeit“ bis zehn für „so verständlich wie eine Radionachricht“.
Multilinguale Konzerne mit sprachlichen Schwächen
Der unverständlichste Manager ist Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Reitzle, Vorstandsvorsitzender der Linde AG, die mit Industriegasen sowie im Anlagenbau ihre Brötchen verdient. Seine Rede auf der jüngsten HV erinnerte stark an eine Doktorarbeit, zumindest sprachlich. Sie war gespickt mit Schachtelsätzen und Fremdwörtern und bekam wohl vor allem deshalb nur einen einzigen Punkt auf der Verständlichkeitsskala. Nicht-Fachleute dürften gewissermaßen nur Bahnhof verstanden haben. Reitzle, selbst Doktor der Ingenieurwissenschaft, hätte sich besser nicht an der eigenen Doktorarbeit orientieren sollen, dann wäre er sicher nicht das rhetorische Schlusslicht im Dax. 
Mit seiner schlechten Note steht Top-Manager Reitzle jedoch nicht allein. Nur unwesentlich besser drücken sich Metro-Chef Olaf Koch (1,3 Prunkte) und Commerzbank-Lenker Martin Blessing (2,0 Punkte) aus. Eine unverständliche Ausdrucksweise muss insgesamt der Hälfte der 30 Dax-Vorstandsvorsitzenden bescheinigt werden, denn deren Reden kamen in der Studie mit weniger als 3,3 Punkten ebenfalls schlecht weg. Was für ein Armutszeugnis! Multi-Channel-Strategie, Venture-Capital-Tochtergesellschaft, strukturelle Wachstumsfelder – solche und ähnliche Begriffe schmücken die Reden der Unternehmenschefs. „Die meisten Vorstandsvorsitzenden denken vor allem an Analysten und Wirtschaftsjournalisten, wenn sie auf der Hauptversammlung sprechen. Sie vergessen, dass sie auch in die breite Öffentlichkeit wirken können und legen deshalb wenig Wert auf kurze Sätze und gebräuchliche Worte“, begründet Prof. Dr. Frank Brettschneider, der das Fachgebiet Kommunikationstheorie an der Uni Hohenheim leitet.   
Der rhetorische Sieger unter den Dax-Vorständen ist übrigens Telekom-Chef René Obermann. Er kommt immerhin auf 7,2 Punkte. Für den Chef eines Konzerns, der mit Kommunikationstechnik sein Geld verdient und dessen Wertpapiere einst als „Volksaktie“ angepriesen wurden, sollte dies allerdings auch Ehrensache sein. Neben Obermann stehen der BMW-Vorstandsvorsitze Dr. Norbert Reithofer und Infineon-Vorstand Peter Bauer auf dem Treppchen. In Sachen Wortgewandtheit und Rhetorik haben aber auch diese Dax-Vorstände noch Luft nach oben. Nur bleibt die Frage: Wollen die Vorstände überhaupt von Otto Normalverbraucher verstanden werden?
Wortgewandtheit versus Performance
Wenn man nun die Entwicklung der jeweiligen Aktien auf Sicht der vergangenen drei Jahre mit der sprachlichen Güte der Firmenlenker vergleicht, ergibt sich allerdings nicht zwingend eine positive Korrelation. Anders ausgedrückt: Der Vorstand kann, rhetorisch gesehen, ein Flop sein. Als Manager leistet er ganze Arbeit. Wie die Grafik zeigt, trifft das nicht nur auf Linde-Chef Reitzle zu. Auch die Vorstände von Fresenius SE, Fresenius Medical Care, Deutsche Post sowie Adidas und Henkel haben, ungeachtet der Erkenntnisse der Uni Hohenheim, eine hervorragende Kursentwicklung vorzuweisen. Was sagt uns das? Der Spruch, Kaufe nur, was Du verstehst, hat offenbar ausgedient.
Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Reitzle, die Dax-Vorstände und portfolio wünschen Ihnen ein unmissverständlich schönes Wochenende. 
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