Zinszusatzreserve in Zeiten der Zinswende
Im Juli hat die EZB mit ihrer ersten Leitzinserhöhung seit elf Jahren die Zinswende eingeleitet. Dies ist zunächst eine frohe Botschaft für die Lebensversicherungsbranche, hatte sie doch jahrelang unter der Niedrigzinspolitik gelitten. Die Solvenzquoten steigen und die Anlage in zinsgebundene Wertpapiere wird wieder profitabler. Komplizierter wird es allerdings beim Blick auf die Zinszusatzreserve.
Mit der Zinszusatzreserve (ZZR) legte der Gesetzgeber vor mehr als zehn Jahren den deutschen Lebensversicherern ein bilanzielles Instrument zur Kapitalvorsorge in Niedrigzinszeiten auf. Die ZZR verlangt den Versicherern zusätzliche Rückstellungen zur dauerhaften Finanzierbarkeit der garantierten Versicherungsleistungen ab. Sie entlastet den künftigen Zinsfinanzierungsbedarf, indem sie die ökonomische Garantiezinsanforderung in den Beständen der Versicherer reduziert. So soll sichergestellt werden, dass die Anbieter auch in langen und extremen Niedrigzinsphasen stets die Garantien aus den hochverzinsten Altverträgen erfüllen können. Wie stark die ZZR die Garantieanforderungen der Lebensversicherer entlastet, zeigt die Tabelle. So konnte die Branche den Garantiezins unter Berücksichtigung der ZZR bis Ende 2021 stark reduzieren, nämlich im arithmetischen Durchschnitt von 2,56 auf 1,43 Prozent.
Allerdings stellte die Finanzierung der ZZR viele Anbieter vor große Herausforderungen. Wie hoch die jährliche Zuführung im Einzelfall ausfällt, errechnet sich durch einen für alle Lebensversicherer einheitlichen Referenzzins, der wiederum auf der Entwicklung der Zinsen (Swaps) der vergangenen zehn Jahre aufsetzt. Ist der vertragliche Garantiezins dann höher als der Referenzzins, schreibt die ZZR-Methodik vor, die bilanzielle Rückstellung für die kommenden 15 Jahre mit dem Referenzzins neu zu berechnen und die Differenz in die ZZR einzustellen. Damit wirken die Zinsen im Markt direkt auf den jährlichen ZZR-Zuführungsbedarf. Mit den sinkenden Zinsen fiel der Referenzzins über die Jahre ebenfalls signifikant, weshalb die Branche der ZZR jedes Jahr mehrere Milliarden Euro zuführen musste. So lag der ZZR-Bestand Ende 2021 branchenweit bei etwa 96 Milliarden Euro, wovon knapp zehn Milliarden Euro auf die Zuführung im Bilanzjahr 2021 entfielen.
Mit dem massiven Zinsaufschwung hat sich die Situation nun völlig verändert. Dabei kletterten die für die Berechnung des Referenzzinses relevanten 10-jährigen Null-Kupon-Euro-Zinsswapsätze von circa 0,30 Prozent Ende 2021 binnen weniger Monate im September über die 3-Prozent-Marke. Damit geht der ZZR-Referenzzins für 2022 erstmals nicht weiter zurück, sondern bleibt mit 1,57 Prozent unverändert. Obwohl der Referenzzins auf diesem niedrigen Niveau verharrt, prognostizieren unsere aktuellen Modellrechnungen, dass es marktweit bereits 2022 zu ersten Rückflüssen aus der ZZR kommen wird. Ursächlich hierfür ist die Entwicklung der relevanten Vertragsbestände, deren Garantieverzinsung über dem Referenzzins liegt. Konkret laufen hier zwei Effekte gegeneinander: Durch den weiterhin niedrigen Referenzzins in Verbindung mit der jährlich fortschreitenden 15-Jahres-Betrachtung der Einzelverträge ergibt sich auf der einen Seite weiterer Zuführungsbedarf („Zinseffekt“). Andererseits läuft der Altvertragsbestand über die Jahre sukzessive aus („Bestandseffekt“). In unserer Prognose überwiegt letztgenannter Effekt, so dass die Rückflüsse die Zuführungen überkompensieren. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die 15-Jahres-Betrachtung nur dann neue Zuführungen zur Folge hat, wenn der Vertrag noch eine Restlaufzeit von über 15 Jahren hat.
In Zahlen ausgedrückt rechnen wir für 2022 mit branchenweiten Rückflüssen in Höhe von insgesamt drei Milliarden Euro. Sollte das Zinsniveau in den kommenden Jahren weiter steigen (oder zumindest nicht wieder sinken), dürfte es auch in den Folgejahren jeweils zu Netto-Auflösungen im mittleren einstelligen Milliardenbereich kommen. Denn dann würde sich der Referenzzins zunächst weiterhin seitwärts entwickeln und erst in einigen Jahren dem Marktzins annähern. In beiden Szenarien würde der gleichbleibende Referenzzins dafür sorgen, dass sich der ZZR-Bestand bis 2027 jährlich recht konstant verringert. Ab 2028 unterscheiden sich die ZZR-Auswirkungen zwischen dem Anstiegs- und dem Fortschreibungs-Szenario insoweit, als dass ein höheres Zinsniveau den ZZR-Abbau noch beschleunigen würde. Dies ist maßgeblich auf die Korridormethode zurückzuführen, die der Gesetzgeber zum Ende des Bilanzjahres 2018 für die ZZR-Ermittlung neu eingeführt hatte. In ihrer Funktionsweise fokussiert die Korridormethode den Referenzzins und definiert auf Basis des Vorjahreswertes, in welchen Grenzen sich der Referenzzins verändern darf.
So sorgt die Korridormethode dafür, dass die Referenzzinsentwicklung in bestimmten Grenzen verläuft. Zudem werden Nachlaufeffekte bei steigenden Zinsen verhindert. Durch den ersten Aspekt sank der Referenzzins seit 2018 langsamer als der durchschnittliche Marktzins. Im umgekehrten Fall erreicht der Referenzzins dadurch bei weiter steigenden Zinsen erst langfristig das Marktzinsniveau. Aufgrund des aktuellen Zinsaufschwungs ist aber die Vermeidung eines Nachlaufeffekts wichtig: Ohne Korridormethode würde der Referenzzins trotz Zinsanstieg erst noch fallen und weitere ZZR-Zuführungen nach sich ziehen, bevor er wieder ansteigt.
Ein genauerer Blick auf die Folgen eines Nachlaufeffekts zeigt, dass die Kombination aus gestiegenen Zinsen und ZZR-Zuführungsbedarf die Branche vor massive Finanzierungsprobleme stellen würde. Schließlich finanzierte ein Großteil der Versicherer die ZZR-Zuführung dadurch, dass sie Bewertungsreserven in den Kapitalanlagen realisierten. Aufgrund der hohen Anleihequoten von Lebensversicherern sowie der niedrigen Marktzinsen hatten die Bewertungsreserven Ende 2021 ein Volumen von etwa 150 Milliarden Euro erreicht. Die jüngst gestiegenen Zinsen kehrten die stillen Reserven jedoch binnen weniger Monate in stille Lasten um, so dass sie nicht mehr zur Finanzierung der ZZR bereit stünden.
Mit diesem Szenario müssen sich die meisten Lebensversicherer im deutschen Markt nicht beschäftigen. Stattdessen können sie ihren ZZR-Bestand im aktuellen Zinsumfeld sukzessive abbauen. Da festverzinsliche Wertpapiere einen Großteil der stillen Lasten ausmachen, können die Gesellschaften diese aufgrund ihrer langen Laufzeit halten, bei rein zinsinduzierten stillen Lasten in der Regel auch ohne Abschreibungsnotwendigkeit, da Lebensversicherer als Langfristinvestoren üblicherweise mit Buy-and-Hold-Strategien agieren. Die Kehrseite ist, dass stille Lasten die Ertragsflexibilität mindern und grundsätzlich dem Risiko ausgesetzt sind, doch realisiert werden zu müssen oder aufgrund von Bonitätsverschlechterungen der Emittenten Abschreibungen nötig sind.
Daher dürften einige Lebensversicherer weiter Anleihen verkaufen und die Rückflüsse aus der ZZR als bilanziellen Ausgleich für die entstehenden Verluste verwenden. Kurzfristig werden die Kunden damit nur in geringem Maße von den Geldern der ZZR profitieren, obwohl ursprünglich im Sinne des Kunden eingeführt. Langfristig sind die Versicherer durch den Zinsanstieg jedoch in der Lage, in der Neu- und Wiederanlage in rentablere Papiere zu investieren, aufgelöste ZZR-Mittel in die Rückstellung für Beitragsrückerstattung (RfB) einzustellen und auf lange Sicht wieder höhere Überschussbeteiligungen zu ermöglichen. Beim Thema Zinsaufschwung in der Lebensversicherung liegt das Gute eben nicht ganz nah, sondern man muss eher in die Ferne schweifen.
Autoren: Lars Heermann und David DyschelmannSchlagworte: Anleihen | Versicherer
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