Pensionsfonds
20. April 2020

Ein fixes Defizit ist fiktiv

Jane Hutton, die als Whistleblowerin auf Fehler beim englischen Pensionsfonds USS hinwies, sprach mit portfolio institutionell über die Probleme bei der Berechnung des Defizits.

Whistleblower wie Snowden, Manning oder Pinto büßen für ihr gesellschaftliches Engagement. Jane Hutton ist Professorin für Statistik und eine Whistleblowerin, die auf Fehler beim englischen Pensionsfonds USS hinwies. Sie sprach mit portfolio institutionell über die Probleme bei der Berechnung des Defizits und warum der aktuelle Diskontierungssatz zum Ende von DB-Plänen in England beitrug. Auch Hutton bekam ihre Tätigkeit als Hinweisgeberin nicht gut.

Im Zentrum des Konflikts steht der britische Pensionsfonds USS (Universities Superannuation Scheme). Mit einem verwalteten Vermögen von umgerechnet knapp 80 Milliarden Euro ist es die größte Defined Benefit (DB) Pensionskasse Englands. Seit Jahren argumentiert der USS-Vorstand, dass das Defizit angesichts der Niedrigzinsen und steigender Lebenserwartung unhaltbar sei, Mitgliederbeiträge sollen drastisch erhöht werden. Langfristig solle zumindest ein Teil der Vorsorge in ein Defined Contribution (DC) Scheme übertragen werden. Zum Zeitpunkt unseres Interviews streiken Akademiker an 74 britischen Universitäten gegen die geplanten Rentenkürzungen.

Doch laut Jane Hutton, USS-Treuhänderin, beruht der Streit auf einem Rechenfehler und verbucht USS einen gesunden Überschuss von neun Prozent. Hutton übte scharfe Kritik am Diskontierungssatz, der zur Berechnung des Pensionsfondsdefizits genutzt wird. Zudem verweigere ihr der Vorstand Zugriff zu den Daten, welche die Defizitberechnungen unterlegen. Mit ihrer Kritik stach sie in ein Wespennest. Ihre Argumente gehen an den Kern der Debatte zur Nachhaltigkeit der Altersvorsorge.

Die traditionelle, leistungsorientierte Defined Benefit (DB) Altersvorsorge wird zunehmend durch ein beitragsorientiertes, Defined Contribution (DC) System ersetzt. Die überwiegende Mehrheit der leistungsorientierten Pensionskassen in England nimmt keine neuen Mitglieder mehr auf. Stattdessen werden Arbeitnehmer seit 2015 automatisch einer beitragsorientierten Pensionskasse angeschlossen. Doch Kritiker warnen, dass die Beitragszahlungen in den DC Schemes viel zu niedrig sind und langfristig zu Altersarmut führen werden.

Beitragszahlungen für DC-Schemes zu niedrig

Querdenker werden aber anscheinend bei der größten Pensionskasse des Landes nicht gerne gesehen. Hutton meldete ihre Kritik bei den Aufsichtsbehörden, der Financial Conduct Authority (FCA), dem Financial Reporting Council (FRC) und The Pension Regulator (TPR), stieß aber auf taube Ohren. Im Herbst vergangenen Jahres, kurz nachdem sie mit ihren Beschwerden an die Öffentlichkeit ging, wurde Hutton plötzlich entlassen. Laut USS habe sie Ihre Verantwortlichkeit als Treuhänderin verletzt, dies habe allerdings nichts mit ihren Warnungen zur Berechnung des Defizits zu tun.

Dies sieht Hutton anders. Sie wird gegen die Entlassung vor Gericht gehen. Sie sei aufgrund ihrer Rolle als Whistleblower entlassen worden, zudem habe man ihrem Anwalt den Zugriff auf eine Studie, die zu ihrer Entlassung führte, verweigert. USS wollte sich aufgrund des anstehenden Prozesses vor dem Arbeitsgericht nicht zu den Vorwürfen äussern. Jane Hutton kommt aus einer Familie von Querdenkern. Ihre Mutter wuchs in den 30er Jahren als Pazifistin im Nazideutschland auf, ihr Vater engagierte sich in Südafrika gegen das Apartheidsregime. Diese Familiengeschichte war offenbar prägend. Im Gespräch mit portfolio institutional, der englischen Schwesterpublikation von portfolio institutionell, äußert sie sich erstmals seit Ihrer Entlassung zur Kontroverse um den Diskontierungssatz.

Laut Hutton, die sich als Akademikerin normalerweise mit Medizinischer Statistik beschäftigt, beginnt das Problem schon mit einer schludrigen Datenverwaltung und zweifelhaften Buchhaltungsstandards die in der Finanzbranche vorherrschen. So werden Rechensummen pauschal aufgerundet, Korrekturen nicht dokumentiert und komplexe Wirtschaftsprognosen von wohlbekannten Beraterfirmen oftmals auf Excel Spreadsheets, statt geeigneter Software gemacht.

Schludrige Buchhaltung

„Als Statistikerin war ich schockiert von den Standards, die in der Finanzbranche herrschen. Die Beraterfirmen verlangen oft beinahe eine Million Pfund für ihre Prognosen und machen Fehler, die wir einem Bachelorstudenten nicht durchgehen lassen würden. Diese Fehler häuften sich an und beeinflussen die Qualität der Prognosen, so Hutton. „Es ist ein mathematischer Fakt, dass Rechenfehler sich fortsetzen.“ Kern des Problems sind laut Hutton allerdings nicht nur zweifelhafte Daten, sondern die Formel zur Berechnung des Defizits. Da die meisten DB Schemes keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen, sind die einzigen Variablen die Lebenserwartung und die Rendite auf Kapitalanlagen. Der Diskontierungssatz von USS orientiert sich an den im Jahr 2000 eingeführten FRS17 Rechnungslegungsstandards. Diese beinhalten die Diskontierung der Verbindlichkeiten auf Basis der Kapitalmarktzinsen für Unternehmensanleihen mit einem AA-Rating. Gleichzeitig werden Vermögenswerte aufgrund der aktuellen Markwerte bewertet. FRS17 wurde durch FRS102 ersetzt; doch das Grundprinzip, der Fokus auf aktuelle Marktwerte, änderte sich nicht. Angesichts des aktuellen Niedrigzinsumfeldes hat dies dramatische Folgen für das Defizit.

Gerade jetzt steht für USS mal wieder die dreijährliche Bewertung der Pensionsrückstände an. Aktiva und Passiva werden dabei anhand der aktuellen Marktwerte berechnet. Angesichts der fallenden Aktienkurse und sinkenden Kapitalmarktzinsen ein ausgesprochen schlechtes Timing für den Rentenfonds der Akademiker. Hinzu kommt, dass USS in den vergangenen Jahren das steigende Defizit mit einer risikoorientierteren Anlagestrategie bekämpft hat. Aktuell hat der Fonds circa 60 Prozent seines Vermögens in Aktien investiert und weitere 20 Prozent in privaten Kapitalmärkten. Nur knapp ein Drittel des Geldes ist in Anleihen investiert. Diese Kombination hat in den vergangenen Jahren solide Renditen geliefert, eine Momentaufnahme der Anlagewerte Ende März wird wahrscheinlich aber unvorteilhaft aussehen.

Defizit im Widerspruch zur Anlagerendite

Aufgrund der Rechnungslegungstandards kommt es zudem zu starken Schwankungen des Defizits. So sank das USS-Defizit von 2017 auf 2018 von 8,58 auf 4,12 Milliarden Euro und verdoppelte sich 2019 wieder auf 7,55 Milliarden Euro. Gleichzeitig stieg die Anlagerendite innerhalb der vergangenen fünf Jahre im Durchschnitt um mehr als zehn Prozent. Im Jahr 2017 lag die Performance des Superannuation Scheme sogar bei 20 Prozent. „Man muss kein Statistiker sein, um zu sehen, dass das nicht stimmen kann“, so Hutton.

Schon damals warnten Akademiker und die Arbeitgebervereinigung Confederation of British Industry (CBI), dass die neuen Rechnungslegungsstandards zum Ende der leistungsorientierten Altersvorsorge führen würden. „FRS17 verpflichtet Firmen, ihre Vermögenswerte, die Aktiva und Passiva ihrer Pensionskasse, als Momentaufnahme zu bewerten. Das hat sich auf die Wahrnehmung von Investoren ausgewirkt und in einigen Fällen selbst Anlageentscheidungen beeinflusst. Treuhänder werden dazu gezwungen zu kurzfristigen Maßnahmen zu greifen, um auf die volatilen Defizitprognosen zu reagieren“, warnte das CBI bereits im Jahr 2002.

Nach Einschätzung von Hutton haben Aufsichtsbehörden und Aktuare hier überreagiert. „In den 90er Jahren, als die Aktienmärkte im vollen Schwung waren, hätten Aktuare zu Zusatzbeiträgen raten können. Stattdessen empfahl man damals die Beiträge für Pensionskassen zu reduzieren. Jetzt haben wir genau das umgekehrte Problem.“ Das aktuelle TPR Regime bestehe darin, Arbeitgebern, die ein DB Scheme anbieten, zu sagen: „Wir wollen, dass ihr eine Versicherung für eure Altersvorsorge habt für den Fall, dass ihr Pleite geht. Und wir setzen die Versicherungsbeiträge dermaßen hoch, dass ihr garantiert bankrottgehen werdet“, kritisiert die Statistik-Professorin Hutton.

Langfristige Cashflow-Betrachtung sinnvoller

Das Pensionskassendefizit wird dabei als ein akutes Problem gesehen. „Aktuare sprechen hier von einer Bewertung des Defizits, es ist aber keine Bewertung, sondern eher eine Budgetplanung und daher langfristig. Momentan wird mit dem Pensionskassendefizit umgegangen, als ob man alles auf einmal zahlen müsse. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass sich die Bilanzen einer Pensionskasse nicht unmittelbar verändern. Es macht also mehr Sinn, sich an den langfristigen Cashflows zu orientieren. Falls es dort zu Engpässen kommen sollte, kann man Beiträge gegebenenfalls anpassen. Stattdessen sehen wir dramatische Schwankungen der Defizitprognosen, die wiederum zu einer Rückkopplungsschleife führen“, so Hutton. Hutton kritisiert die Tendenz das Pensionskassendefizit als eine konstante Summe darzustellen. „Das ist falsch. Das Defizit als festgelegte Summe ist fiktiv.“ Stattdessen sollte man eine Prognose des Defizits unter verschiedenen Umständen präsentieren, so Hutton. „Das Schlimmste an der Geschichte ist, dass die Aufsichtsbehörde The Pension Regulator davon ausgeht, dass eine Anlagestrategie, die ausschließlich aus hochgradigen Anleihen besteht, risikofrei sei. Das ist sie allerdings überhaupt nicht, das Risiko wird einfach nur von Firmen und auf einzelne Haushalte geschoben, indem man ihnen sagt, man könne von nun an keine Altersvorsorge mehr garantieren. Wer nichts verspricht hat auch keine Verantwortlichkeit“, erklärt Jane Hutton.

Wie könnte eine Alternative für Defizitprognosen aussehen? Neben dem Schwerpunkt auf Cashflows, anstelle eines absoluten Defizits ist es laut Hutton auch wichtig, Pensionskassendefizite als Teil der Gesamtwirtschaft zu sehen. „Wer nur über Beitragszahlungen nachdenkt und nicht darüber, dass durch diese Zahlungen Firmen pleitegehen könnten, der macht keine nachhaltige Politik“, so die Warnung der Professorin. Für viele Firmen in England ist das ein reales Problem. So ist das verwaltete Vermögen der Pensionskasse für den Energieriesen Centrica mit knapp elf Milliarden Euro doppelt so hoch wie dessen Börsenkapitalisierung. Ins Bild passt, dass British Airways gern auch spöttisch als Pensionskasse mit angeschlossener Fluggesellschaft bezeichnet wird.

Ein möglicher Kompromiss könnten die geplanten Collective Defined Benefit Schemes (CDC) sein. Der Pensionsfonds der Royal Mail wird diese gemeinschaftliche Veranlagung als Pilotprojekt mit Zustimmung der Gewerkschaft ausrollen. Das Vermögen des Pensionsfonds wird dabei auch kollektiv auf Treuhänderbasis verwaltet, die Mitglieder sind kollektiv für Anlagegewinne und Verluste verantwortlich.

Collective Defined Benefit Schemes als Alternative

Trotz der Risiken ist die beitragsorientierte Altersvorsorge laut Jane Hutton keine Alternative. „Eine Studie von Robert Brown und Craig McInness aus Kanada belegt, dass bei einem Wechsel von Defined Benefit zu Defined Contribution im öffentlichen Dienst alle Betroffenen schlechter dran sind. Die Einzigen, die bei einem solchen Wechsel profitieren, sind die Arbeitgeber, die ihre Verantwortlichkeiten auf den Staat abladen. Die beitragsorientierte Altersvorsorge ist ein Desaster für einzelne Haushalte und langfristig für den Staat und unsere soziale Sicherung“, warnt Hutton. Andererseits dürften Arbeitgeber mit Blick auf die Herausforderungen auf den Kapitalmärkten im Normalfall nur noch zu Defined Contribution bereit sein. Defined Contribution sollte sich aber auch langfristig so gestalten lassen, dass Arbeitnehmer eine auskömmliche Rente erwarten dürfen.

Autoren:

Schlagworte:

In Verbindung stehende Artikel:

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert